Nachts besuchte er nach der Schneeschmelze oft seinen eingeschlossenen See. Mit Fackeln in der Hand schlich er durch den Wald und verschwand in der kleinen Höhle, die sich erst langsam weitete, bis die riesige Halle mit dem See vor ihm lag. Aus Rinden und Hölzern hatte er sich am Rande des Sees, auf dem glitschigen Felsen, ein Boot gezimmert, überzogen und dicht gemacht mit geschälten Hammelhäuten, die er in flüssigen Tiertalg tauchte und dann trocknen ließ. Mit diesem Boot und einem geschnitzten Ruder fuhr er eines Nachts hinaus auf den See, die Fackel in der einen Hand, mit der anderen rudernd.
Das Wasser war wie Silber ... er sah auf seiner Fläche seine Fackeln wieder, sein Gesicht, den Kiel des Bootes und den Stiel des Ruders. Er ruderte mit Schrecken im Herzen, denn noch immer reichte der Schein seiner Fackeln nicht bis zum anderen Ufer und der gegenüberliegenden Felswand. Auch die Höhe blieb dunkel und geheimnisvoll ... sie war wie die riesige Kuppel eines Domes.
Ab und zu warf er große Steine in die Tiefe ... er hörte ihren Aufschlag nicht, solange er auch zählte. Da unterließ er, von Grauen gepackt, das Zählen und ruderte vorsichtig weiter. Immer geradeaus, der gegenüberliegenden Wand entgegen.
Nach vielen, vielen Ruderschlägen stieß er endlich am jenseitigen Ufer an . einer steilen Wand, die keinerlei Standmöglichkeit bot. Hier war auch das Rauschen stark wie bei einem Wasserfall. Jossip sah an der Oberfläche, daß in diesem Teil des Sees eine Strömung war . ein unsichtbarer Fluß mußte sein Wasser in diese Riesenhöhle abgeben . wohin es wieder abfloß, wußte Jossip nicht . vielleicht in einen langen, unterirdischen Kanal, der irgendwo, kilometerweit entfernt, als starke Quelle zu Tage trat und einen oberirdischen Fluß gebar. Vielleicht die Piva oder die Tara?
Jossip ruderte an der Wand entlang, um den See herum, bis er wieder zu der Stelle kam, an der sein Rock, sein Handwerkzeug und neue Fackeln lagen. Die alten waren niedergebrannt - nur eine einzige leuchtete noch schwach. Mit ihr entzündete er die anderen und verbrannte dann das Boot am Ufer des unterirdischen Sees. Niemand sollte mehr über dieses Wasser fahren - er allein war sein Herr geworden, kannte sein Geheimnis und wußte um seine Größe.
In dieser Nacht schlief Jossip nicht . er starrte durch das Fenster hinaus auf die dunklen Felsen und den klaren Himmel, dem er so nah war wie keiner in Zabari. Das Ungeheure seiner Entdeckung warf auch ihn zu Boden. Er begriff, was es bedeutete, dieses Geheimnis als einziger zu besitzen, ein Geheimnis über Leben und Tod einer ganzen Landschaft.
Das Eintreffen Elenas in Zabari und die Wegfahrt Osiks, allein und ohne die fremde Frau, wie Jossip beobachtete, mußte eine Wendung herbeiführen. Jossip spürte es. Nie würde Rosas Ehre es ertragen, neben Elena zu leben . entweder ging die fremde Frau -oder Rosa ging. Und dann kam sie zu ihm, zu Jossip, dem Hirten, der eine Hütte für sie gebaut hatte und dreißig Schafe hatte, die sie ernähren konnten. Sie, Jossip und viele Kinder.
Am nächsten Abend stieg Jossip von seinen Felsen hinab nach Zabari. Er wollte in der Dunkelheit noch einmal zu der Hütte der Suhajas schleichen und Rosa sprechen. Er wollte ihr erzählen von der Größe seines geheimen Reiches und von dem Wohlstand, den sie beide haben würden, wenn er dieses Geheimnis verkaufte an die großen Herren aus Belgrad. Vielleicht kam sie dann mit ihm, nachdem sie gesehen hatte, daß Ralf Meerholdt eine andere Frau neben ihr hatte, vielleicht wartete sie sogar auf ihn, damit er Rache nehmen konnte für die verlorene Ehre Rosas.
Als die Nachtwolken sich über die Berge schoben und an den Baustellen die Tiefstrahler aufleuchteten, die Lampen der Barackenlagergasse brannten und die Bauern wie seit Jahrhunderten um das Feuer im Herd saßen und die Holzschüssel mit Schafsmilch und Mehl aßen, strich Jossip um das Haus der Suhajas und wartete auf Rosa. Er wußte, daß sie jeden Abend noch einmal in den Garten ging, um nach den Tieren zu sehen, die vom Frühjahr ab in offenen Ställen schliefen. Sie schloß dann mit quergelegten Balken die Ausläufe und schüttete noch etwas Wasser in die Futtertröge.
Aber heute wartete Jossip vergebens. Rosa kam nicht. Das Licht hinter dem Fenster erlosch . die alten Suhajas waren in ihre Schlafkammer gegangen und hatten das Herdfeuer abgedeckt.
Mißtrauisch und wieder von wilder Eifersucht überfallen, schlich Jossip durch die Gärten der Bauern dem Lager zu. In der Nähe der Küchenbaracke Bonellis versteckte er sich hinter einem Stapel Bauholz, der im Schatten einer halbfertigen Baracke lag. Von dort aus beobachtete er das Leben auf den Lagergassen und auch das lange Haus Ralf Meerholdts. Die Fenster waren erleuchtet, aber zugezogene Gardinen versperrten den Blick ins Innere.
Lastwagen und Schlepper kamen an seinem Versteck vorbei, eine Arbeitskolonne, die Ablösung der Spätschicht, trottete ins Lager, einige Bauern aus Zabari kamen aus Bonellis Kantine, unter dem Arm eine Flasche Slibowitz. Sie hatten mit einigen Pferden geholfen, Stämme den Hang hinabzuziehen . nun versoffen sie den Lohn und priesen die Segnungen der plötzlichen Zivilisation.
Von Rosa bemerkte Jossip nichts. Aber er wartete weiter, geduldig und verbissen, denn wenn sie nicht in der elterlichen Hütte war, konnte sie nur bei dem Fremden sein.
Über zwei Stunden hockte er zwischen den Holzstapeln. Dann sah er, wie Rosa aus der Baracke trat und hinüber zu Bonelli ging. Verblüfft starrte ihr Jossip nach. Sie trug die Kleidung der Städter, und nur an ihrem langen Haar erkannte er sie. Kaum hatte Rosa die Kantine betreten, fiel wieder Lichtschein auf die Lagergasse. Die fremde Frau war aus dem Haus getreten und stand nun in der Dunkelheit an der Wand. Sie wartete. Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie mit hastigen, nervösen Zügen. Als sich die Tür von Bonellis Baracke wieder öffnete und Rosa herauskam, warf sie die Zigarette weg und trat sie aus. Sie stand jetzt in der Dunkelheit wie ein gefährliches Tier, wie ein Raubtier, das die Beute beobachtet, ehe es sie anfällt.
Jossip drückte sich näher an das Holz und hielt den Atem an. Als Rosa aus der Kantine trat und sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah sie den Schatten Elenas an der Hauswand. Sie hatte bei Bonelli eine Flasche Wein und eine schöne Wurst gekauft. Aus ihnen wollte sie Ralf ein gutes Abendessen bereiten, eine kleine Überraschung, wenn er von der Baustelle zurückkam und sich müde auf die Couch fallen ließ. Sie kannte diese Stunden der völligen Erschöpfung und wußte, wie dankbar er sein konnte, wenn sie dann um ihn war und ihn pflegte, als sei er krank und bedürfe ihrer Hilfe.
Elena hatte sie seit dem Auftritt am Mittag nicht mehr gesehen. Sie blieb in ihrem Zimmer hinter dem Zeichenraum und hatte sich eingeschlossen. Die Wandlung Rosas hatte sie vom Fenster aus bemerkt, als sie wütend und rachesinnend im Zimmer hin und her ging. Als sie Rosa in den schönen, neuen Kleidern sah, gefährlich hübsch und mit jenem Hauch Exotik, der Männer fesselt, hatte sie sich in die geballte Faust gebissen und einen Schreikrampf unterdrückt. Rosa verlangsamte ihren Schritt, als sie vor Elena stand und ihre Gestalt in der Dunkelheit sah. Sie blieb stehen und blickte sie an.
»Warum gehst du nicht weiter?« zischte Elena. Sie bebte am ganzen Körper vor Erregung. »Was willst du hier?«
»Das könnte ich dich auch fragen«, entgegnete Rosa.
Elena atmete schwer. »Du duzt mich?!« Sie trat einen Schritt vor; aber so plötzlich, wie es geschah, Rosa wich nicht zurück oder erschreckte sich. »Du Bauerntrampel wagst es, mich zu duzen?«
»Du tust es auch! Ich habe mit dir keine Freundschaft geschlossen!«
»Aber mit Ralf um so mehr, nicht wahr? An den Hals hast du dich ihm geworfen und glaubst, daß er dich heiratet?«
Sie lachte grell auf. es sollte höhnisch klingen, aber es war ein Verzweiflungsschrei. »Ein Bauernmädchen als Frau Ralf Meerholdts? Ein Mädchen mit Kuhgestank in den Villen von Zagreb oder Belgrad? Kannst du überhaupt tanzen? Weißt du, was ein Foxtrott ist? Ein Swing? Kannst du Hummer essen oder einen Chateaubriand? Weißt du, wie man ein Cocktailglas hält oder wie man die Hand hinstreckt zu einem Handkuß? Du bist ein dummes, blödes Frauenzimmer, das nichts hat als eine schöne Larve, einen Schwall von langen Haaren. Haare, wie der Schwanz eines Pferdes! Und unter diesen Haaren ist Stroh!« Elena zitterte, ihre Stimme brach nach jedem Satz vor Gift. »Hast du schon einmal eine Party mitgemacht? Wie nimmt man den Tee ein? Kannst du überhaupt mit Messer und Gabel essen?« Sie lachte höhnisch und spürte, daß ihr Herz frei wurde nach den galligen Worten.