»Ihr seid freie Arbeiter, solange ihr eure Arbeit tut. Aber ihr werdet Zwangsarbeiter, wenn ihr streikt!« Meerholdt schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts dafür, Leute. Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Klagt die an, die unter Freiheit der Persönlichkeit die Kollektivierung der Massen und die Einheit der Gehirne verstehen. Was kann ich daran ändern? Ich bin wie ihr nur ein kleiner Mann, den man ebenso schnell an die Wand stellt, wenn ich nein sage und anders denke und arbeite, als es der Befehl von oben will!«
Drago Sopje nickte. Er drehte sich um und ging mit langsamen, schweren Schritten durch die Reihen der stummen Arbeiter. Er nahm an der Barackenecke seinen Spaten auf, warf ihn über die Schulter und ging langsam der Baustelle zu.
Stumm standen die anderen und sahen ihm nach. Dann bröckelte es in den Reihen . einer . drei . fünf . zehn gingen vom Platz, nahmen ihr Arbeitszeug und stapften durch die weiche Erde dem Tal zu. Die letzten fünfzig standen noch immer unbewegt vor der großen Baracke, als Meerholdt an Vrana vorbei um die Maschinengewehre schritt und den Arbeitern zur Baustelle nachging. Er blickte sich nicht um, aber er hörte hinter sich Schritte, viele Schritte, wie den Marschtritt einer Kolonne. Hauptmann Vrana stand allein auf dem Platz und sah verblüfft in die Lagergasse. Hinter Meerholdt her marschierten die letzten fünfzig Rebellen zu der Baustelle, die Spaten und Hacken geschultert. Es fehlte nur noch, daß sie sangen.
»Abbauen!« schrie Vrana seine Soldaten an und trat gegen den Lauf des einen Maschinengewehrs. »Der Dienst laut Dienstplan geht weiter!«
Wütend ging er in seine Wachbaracke und trank ein großes Glas Slibowitz.
Vom Fenster der Kantine Bonellis aus hatte Jossip die unblutige Niederschlagung der Revolte mit angesehen. Jetzt trank er mit bebenden Händen sein Glas Bier und verließ das Lager.
Er ist stärker als ich, dachte er haßerfüllt. Er hat mich geschla-gen, dieser fremde Teufel, dieses Weißgesicht mit dem Madonnenblick! Sie arbeiten weiter ... und wenn ich zehn umbringen würde, sie arbeiten weiter!
Langsam ging er die Dorfstraße hinab, den Kopf gesenkt. Er dachte an seinen eingeschlossenen See, eine Waffe, die ihm niemand aus der Hand schlagen konnte. Auch Meerholdt nicht.
In diesen aufregenden Tagen hatte Rosa eine Entdeckung gemacht. Der Verdacht, der auf ihr lastete, hatte sich als haltlos erwiesen, selbst das strenge Belgrad sah ein, daß ein Mädchen wie Rosa einer solchen Grausamkeit, wie sie Elena Osik zum Opfer gefallen sein mußte, nicht fähig war. Doch das Verschwinden Elenas hatte einen seelischen Graben zwischen Ralf und Rosa ausgeworfen . sie sahen sich jeden Tag, aber sie sprachen nur wenig miteinander, sie küßten sich flüchtig, und die träumerischen Nächte, in denen sie sich sonst in den Armen lagen und glaubten, daß Zabari das Paradies sei, waren Erinnerungen, von denen sie zehrten.
Der Schatten Elenas stand zwischen ihnen. Ihr furchtbares Schicksal bedrückte sie, sie wurden nicht glücklich, wenn sie sich liebten, denn immer meinten sie, aus dem Nebenzimmer, das sie bewohnt hatte, ihren Schrei zu hören. Den Schrei, den sie in jener Nacht überhörten, weil sie sich in den Armen lagen und die Nacht und die Welt untergingen in einem heißen Flüstern dummer und doch berauschender Liebesworte.
Ralf Meerholdt hatte sich mehr denn je in seine Arbeit gestürzt. Rosa holte sein Abendessen wie bisher, sie umsorgte ihn, als sei sie mit ihm schon jahrelang verheiratet - aber wenn die Nacht kam, ging sie. Stundenlang lag sie dann wach auf ihrem Graslager in der Hütte, starrte an die rohe Balkendecke und weinte in das zottelige Schafsfell hinein, mit dem sie sich zudeckte.
Nach der Arbeit bei Meerholdt hackte sie wieder Holz und begleitete den Vater in den Wald, wo sie die Reisigberge der gefällten Bäume zusammenbanden und mit einem Ochsenfuhrwerk nach Hau-se schleppten.
Fedor Suhaja und Marina sagten nichts zu der Liebe Rosas - sie nahmen sie hin wie ein Naturereignis, wie Schnee und Wind, Sonne und Nacht. Sie fürchteten nur die Rache Jossips - das getötete Lamm vor ihrer Tür war nicht vergessen, wenn sie sich auch sicherer fühlten, seitdem sie wußten, daß Jossip sogar in die Dienste Meerholdts getreten war, um Elena Osik zu suchen.
»Vielleicht hat er auf Rosa verzichtet«, sagte Fedor einmal zu Marina und schnitt sich Tabak für seine Pfeife. »Aber solange er nicht kommt und einen Hammel von mir holt, um den getöteten damit zurückzunehmen, habe ich keine Ruhe.«
Doch Jossip kam nicht.
Eines Abends, als Rosa im Bergwald Holz zusammenschichtete, sah sie, daß der Boden neben dem aufragenden Felsen feucht war und ein kleines Rinnsal zwischen dem zerklüfteten Plateau versickerte. Es war der gleiche kleine Bach, den Jossip entdeckt und der ihn zu dem eingeschlossenen See geführt hatte.
Verwundert ging Rosa dem Bache nach. Er war neu ... das sah sie. Sie kannte jedes Wasser um Zabari herum, auch jene Bäche und Fälle, die in der Zeit der Schneeschmelze entstehen und im Frühjahr, wenn aller Schnee von den Felsen geflossen war, ebenso schnell wieder eine steinige Rinne wurden wie vordem. Doch dieser Bach lief ... er hatte Wasser, immer neues Wasser, und längst war kein Schnee mehr auf den Bergen!
Am Fuße des großen Felsens, der Hand, die Zabari schützte, blieb sie stehen und sah dem dünnen Wasserfaden nach, der aus einer Spalte herausrann.
Eine neue Quelle ... neues Wasser für Zabari, für die Felder, die Wiesen, die Herden. Wasser - der Inbegriff allen Lebens.
Als Rosa bei Meerholdt anklopfte, umfing er sie, glücklich, daß sie gekommen war. Er führte sie in sein Zimmer und drückte sie auf einen Stuhl.
»Es ist gut, daß du kommst«, sagte er. »Wir müssen miteinander sprechen. In diesen Tagen hat sich so vieles geändert, so ungeheuer
Schreckliches hat sich ereignet, daß ich Zabari verlassen werde.«
Sie sah ihn an, mit großen, wehmutsvollen Augen. Aber sie sagte nichts. Sie sah ihn nur an wie ein schönes Bild, das weggetragen werden soll.
»Ich werde zuerst nach Belgrad gehen und dann zurück nach Deutschland. Ich kann hier nicht weiterleben.«
»Wegen Elena?« fragte sie.
»Auch wegen Elena. Ich fühle mich mitschuldig an ihrem Tod.«
»Sie ist freiwillig nach Zabari gekommen, und sie ist freiwillig geblieben! Sie hat dich geliebt!« In ihren Augen blitzte es auf. »Oh -ich hasse sie . ich gönne ihr den Tod!«
»Rosa!« rief Meerholdt entsetzt.
Sie schüttelte wild die langen Haare. »Niemand liebt dich so wie ich! Niemand!« Sie sprang auf, warf sich an ihn und umklammerte seinen Hals. Ihr Körper drängte sich an ihn, sie war wie eine Katze und krallte sich an ihm fest. »Wenn du gehst, gehe ich mit! Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich nicht mit dir leben könnte! Sag', daß du mich mitnimmst. Sag', daß du nicht allein gehst. Ich sterbe, wenn du fort bist. Du bist mein Atem, mein Blut, mein Herz . du bist alles . alles.«
Er drückte sie an sich, überwältigt von ihrem Ausbruch. Seit jenem Tage, an dem er wußte, daß er Rosa liebte, als er sich klar geworden war über seine Gefühle und sich nicht mehr wunderte, daß er bei allem Denken, bei aller Arbeit, bei jeder Handlung immer nur in der Mehrzahl dachte: Nützt es Rosa und mir . wird es Rosa Freude machen . was wird Rosa dazu sagen . ob es Rosa recht ist . immer Dinge, die eine tiefe Gemeinsamkeit besaßen . seit jenem Tage hatte er oft an die Zukunft gedacht und an die große Frage, ob Rosa wirklich ihr Land verlassen und mit ihm nach Deutschland gehen würde.
Man kann einen Baum umpflanzen, wenn er jung ist. Doch immer bleibt es ein Wagnis: Wächst er an oder geht er zugrunde am fremden Boden, an der fremden Luft, den fremden Winden und Regen?! Und man hofft und ist glücklich, wenn die ersten jungen
Triebe erscheinen und aus ihm die neue Heimat hervorbricht, der Lebenswille in der Fremde! Ein Mensch? Ist ein Mensch ein Baum, eine Pflanze, ein Tier, das man exportieren kann? Als in Deutschland die Landarbeiter knapp wurden, warb man Italiener an. Sie kamen auf die großen Höfe Niedersachsens und Westfalens ... und sie vergingen vor Heimweh, lösten die Verträge und zogen zurück in das Elend ihrer Heimat. Lieber in Hütten leben, aber die Sonne Italiens sehen, den Wein an den Hängen, das blaue Meer mit den Delphinen, den Eselskarren, der knarrend über die staubige Straße holpert und das Obst aus den Gärten zu den Märkten bringt. Und Zeit haben, viel Zeit. Gott schuf die Welt, damit man sie erlebt, nicht damit man sie durchrast. Und so kamen sie zurück aus dem kalten Deutschland und von den vollen Schüsseln mit Bratkartoffeln und Schinken und Quark ... und sie aßen in der Heimat vor Glück weinend wieder ihre Handvoll Spaghetti mit der Tomatensoße oder dem zerriebenen Parmesan. Sie alle kamen zurück in das Elend, um zu Hause zu sein . die Ungarn, die Algerier, die Griechen, die Spanier, die Portugiesen und die Jugoslawen. Ein Mensch ist kein Baum, und das beste Wasser der Fremde ist nicht das schlechte Wasser der Heimat, der fruchtbarste Boden im Norden ist nicht der steinige der südlichen Berge ... und auf dem selbstgerupften und getrockneten Gras unter einem Lammfell schläft es sich herrlicher als im weichsten Daunenbett unter dem Sternenhimmel des Nordens.