»Du spinnst, Jossip!« Elena setzte sich auf die Tischkante und zog Jossip die Büchse mit dem Fleisch fort. »Laß uns vernünftig sprechen, du Scheusal! Laß mich 'raus aus deiner dreckigen Hütte, und ich verspreche dir, niemandem zu sagen, daß du es warst! Ich werde sagen, es war ein Unbekannter, den ich nie gesehen habe!«
Jossip schüttelte den Kopf. Er wischte sich den fettigen Mund mit dem Ärmel seiner Jacke ab. »Das Wort einer Frau ist hohl wie ein alter Baum ... der erste Sturm wirft ihn um!« Er sah sie groß an. »Sie werden dich verhören, Tag und Nacht, und du wirst die Wahrheit sagen. Nein - du wirst frei sein, wenn ich Rache genommen habe. Dann wirst du das letzte, große Grauen erleben, ehe du zurück nach Zagreb gehst. Du wirst die Welt nicht wiedererkennen . du wirst um sie weinen.«
»Die Welt! Weißt du überhaupt, was die Welt ist, Jossip?«
Er nickte. »Meine Berge - sonst nichts. Was hinter und vor ihnen liegt, sind Länder, Meere und Völker, die mir so fremd sind wie die Sterne, so gleichgültig wie das Gesicht des Mondes! Sie gehen mich nichts an, und sie kümmern sich nicht um mich. Aber meine Berge, meine Weiden, meine Täler und Schluchten ... das ist eine Welt, die ich sehe, die ich kenne, die ich liebe, in der ich geboren bin und in der ich sterben werde! Und diese Welt werde ich vernichten.«
»Dann vernichtest du auch dich, Jossip!«
»Ich weiß. Aber es wird eine große Vernichtung werden. Eine herrliche Vernichtung. Es wird sich lohnen, mit ihr unterzugehen!« Seine Augen leuchteten auf... es war ein fast irres Feuer, das ihn er-griff.Er beugte sich über den Tisch vor und sah Elena ins Gesicht. Sein Mund war verzerrt. »Ich kann nicht leben ohne Rosa ... und Rosa wird mit vernichtet werden. Auch dein Ralf. die tausend Arbeiter . das ganze Dorf. das ganze Vieh . die Wälder, die Berge, die Tiere.« Er keuchte vor Erregung. »Ich werde nichts zurücklassen. Nichts!«
Elena erhob sich vom Tisch. »Du bist wirklich verrückt«, sagte sie stockend. Sein flackernder Blick erzeugte Angst in ihr.
Er schloß die Augen und lehnte sich zurück.
»Sie haben mich dazu gemacht.«, sagte er leise. »Sie wollten es nicht anders. Sie haben mir Rosa genommen.«
An dieses Gespräch dachte Jossip, als er im Garten der Suhajas saß und auf Rosa wartete. Als er sie kommen sah, erhob er sich und kam ihr entgegen. An den offenen Ställen für die Schafe trafen sie sich.
»Was willst du hier, Jossip?« fragte sie. Sie ging an ihm vorbei, aber er hielt sie am Ärmel fest.
»Ich muß dir etwas zeigen, Rosa. Ich habe in den Bergen etwas entdeckt, etwas Wunderbares, Rosa. Ein Märchenreich . ein Palast der Feen und Kobolde.«
Rosa drehte sich um. »Du träumst, Jossip.«
»Nein, nein, Rosa! Gestern nacht suchte ich ein Schaf. Es war ausgebrochen und irrte in den Felsen umher. Ich folgte ihm, und plötzlich stand ich vor einer Höhle. Es war, als habe sich der Felsen geöffnet, als habe eine Zauberhand den Berg geteilt. Zitternd stand das Schaf davor. Ich band es an und ging ganz langsam in die Höhle, Schritt für Schritt, mit den Händen mich an den Wänden vorwärts tastend. Und plötzlich öffnete sich der Gang zu einer weiten Halle, und es glitzerte in ihr wie von unzähligen Diamanten. Dicke Säulen wuchsen vom Boden an die Decke, und von der Decke hingen breite Falten glitzernden Gesteins. Ich hatte eine Fackel mit und ließ den Schein kreisen . da war es, als stünde ich in dem unterirdischen Palast eines Geisterkönigs: Die Decke war aus Diamanten, die Wände aus Kristall, und der Boden schimmerte wie Gold im Licht meiner Fackel. Und von weit her . ganz leise, aber deutlich zu hören, rauschte es im Berg, als stürzte ein silbernes Wasser über viele, viele Treppen.«
Rosa hatte mit staunenden Augen zugehört. Ihre Brust hob und senkte sich schneller, eine innere Erregung hatte sie erfaßt.
»Ein unterirdisches Wasser?« fragte sie leise. »Es rauschte in dem Felsen?«
»Und die Halle war wie voll Gold.« Er faßte wieder ihren Arm. »Komm, Rosa . ich will sie dir zeigen.«
»Es war wirklich Wasser?«
»Ich glaube es! Ein unterirdischer Fluß.«
Rosa erfüllte die Entdeckung Jossips mit Glück. Sie glaubte, es sei der unterirdische See, den Meerholdt seit Wochen suchte, nach dem sie seit Tagen bohrten und dessen kleinen Abfluß sie am Fuße des Felsens entdeckt hatte.
»Gehen wir sofort, Jossip!« sagte sie eifrig.
Er nickte. »Am besten steigen wir durch den Wald . ich will nicht, daß die Arbeiter am Berg uns sehen. Es soll ein Geheimnis bleiben, das nur du und ich kennen.«
Sie gingen durch die hereinbrechende Nacht aus dem hinteren Garten heraus und stiegen den steilen Felspfad empor, der um den Wald herumführte und dann durch diesen hindurch bis zu dem Berg, der über Zabari stand. Während des Aufstiegs sprachen sie nichts. Jos-sip ging voran ... Rosa folgte ihm. Im Wald ließ Jossip sie vorge-hen. Während sie sich zwischen den Stämmen und Büschen hindurchwand, beobachtete er ihren Körper, ihre flinken Beine, die Schultern, den Hals und den Kopf mit den langen, schwarzen Haaren. Ein heißes Rieseln durchströmte seinen Körper . er atmete schwer und spürte, wie sein Kopf brannte und das Blut in seinen Schläfen klopfte.
In einer Lichtung hielt Jossip Rosa am Arm fest. Seine Augen brannten vor Leidenschaft.
»Ruh dich ein wenig aus«, sagte er heiser. »Du bist müde von dem schnellen Laufen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber nein, Jossip!« Sie lachte leise. »Wie oft bin ich durch den Wald gelaufen.«
Er setzte sich auf den Boden und breitete seinen Mantel neben sich aus. »Komm - der Gang durch die große Höhle ist schwer. Ruhe dich aus.«
Gehorsam setzte sie sich an seine Seite und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Sie schaute empor . durch die Wipfel der Bäume leuchteten die Sterne, der Mond stand am Rande des Felsens und beschien die Lichtung. Er machte Jossips Gesicht bleich und das Gras silbern.
»Wie ruhig es ist«, sagte sie.
»Sie arbeiten heute nicht im Tal.« Seine Stimme wurde dunkler. »Die Fremden werden uns alles nehmen . sogar die Stille!«
»Aber sie geben uns Reichtum -«
»Und nehmen uns das Glück!«
Jossip betrachtete Rosa von der Seite. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, das schmale Gesicht war gerötet. Wie ein Schleier umgab ihr langes Haar ihre Schultern und die vollen Brüste. Ihre Hüften waren schmal, und die Beine, die unter dem Kleid hervorsahen, waren braun und glänzten im Mondschein.
Eine Königin, dachte Jossip. Meine Königin. Nur mein, mein . mein.
Er spreizte die Finger und drückte sie an seine Seite. Dann schnellte er plötzlich vor, warf sich auf Rosa, schleuderte sie nach hinten auf den Boden und lag auf ihr, ein wildes, keuchendes Tier. Ihr Schrei gellte durch die Stille des Waldes ... da preßte er seine Lippen auf ihren offenen Mund, spürte, daß sie ihn biß und daß sein Blut über seinen Hals lief. Das machte ihn irrsinnig, blind und taub . er drückte den sich aufbäumenden Körper wieder auf den Boden und preßte sie mit seinem Gewicht in das Gras.
Ralf Meerholdt hatte einen kleinen Umweg gemacht, als er als letzter die Bohrstelle am Felsen verließ. Die Arbeiter standen schon bei Bonellis Kantine an und holten sich ihr Abendessen, die Geologen und Techniker saßen in der großen >Chefbaracke<, nur die Soldaten unter Führung eines Unteroffiziers waren zur Wache aufgezogen und pendelten an dem Felsen hin und her.
Den Umweg hatte Meerholdt nur aus einer Laune heraus gemacht. Er wollte den großen Komplex des Baues noch einmal von oben ansehen, vom Hang des Berges aus. Ein gewisser Stolz trieb ihn dazu, ab und zu allein auf einer Höhe zu stehen und sein Werk zu überblicken, die wachsende Staumauer, die Brücken, das Turbinenhaus, die neue Straße nach Zabari, diese ganze Umwandlung eines Landstrichs nach seinen Plänen und seinem Willen.
Er war oberhalb der Schneise in den Wald gestiegen und war dabei, nach dem abgeholzten Hang hinabzugehen, als er zwei Menschen durch den Wald den Berg hinaufsteigen sah. Sie umgingen seitlich die Wachen Hauptmann Vranas und kletterten den Hang in einem Bogen hinan. Es waren ein Mann und eine Frau. Meerholdt blieb stehen und stellte sich hinter einen Baum. Um diese Stunde durfte sich niemand in den Wald wagen. In ganz Zabari wußte man, daß die Wachen sofort schossen, wenn sie eine Bewegung in der Nähe des Felsens sahen. Um so unverständlicher war der Aufstieg der beiden Personen. Waren es Fremde, die nichts von den Ereignissen wußten? Fremde in Zabari? Das gab es nicht - hier wurde jeder gesehen, der über die Straße in das Dorf kam.