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»In drei Tagen habt ihr Jossip, ihr Rindviecher!« schrien sie. »Ihr kommt alle ins Straflager, wenn ihr Jossip nicht findet!«

Auch hier verbreitete die Aussicht auf die Steinbrüche Entsetzen und Verzweiflung. Die Folge der Kopflosigkeit war, daß einer der Geologen, der am Tage den Felsen von der anderen Seite untersuchte, von einem der Soldaten als vermeintlicher Jossip angeschossen wurde.

Hauptmann Vrana tobte. »Bleiben Sie am besten gleich im Lager, Doktor«, sagte er zu dem Arzt, der in Meerholdts Zeichenraum auf einem der Tische die Kugel aus dem Oberschenkel des Geologen herausoperierte. »Wenn das so weitergeht, haben Sie bald alle Hände voll zu tun!«

»Ich würde ihren Helden Platzpatronen geben«, meinte der Arzt sarkastisch.

Hauptmann Vrana winkte wütend ab. »In drei Tagen, wenn sie Jos-sip nicht gefunden haben, wird es ganz ohne Pulver knallen. Dann scheißen sich hundert Mann aus Angst in die Hosen.«

Rosa war noch immer nicht erwacht. Sie blieb in ihrer tiefen Ohnmacht, auch am zweiten Tag, und bekam Vitamininjektionen und Kreislaufmittel verabreicht.

Abwechselnd wachten Meerholdt, Katja und auch Bonelli am Bett Rosas.

Zweimal waren Fedor und Marina, ihre Eltern, da, und Marina segnete Rosa und betete eine Stunde lang, auf den Knien liegend.

Der Bluterguß in der Hüfte schwoll an, das Hüftgelenk verdickte sich. Der Arzt wiegte den Kopf und kaute an der Unterlippe.

»Wir müssen sie bald nach Sarajewo bringen. Vielleicht müssen wir sie operieren, wenn sie kein steifes Bein behalten soll. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob von dem Hüftknochen etwas abge-

splittert ist.«

»Wir fahren sie in vier Tagen zum Röntgen fort.« Meerholdt sagte es so bestimmt, daß der Arzt erstaunt aufblickte.

»Auch dann, wenn sie noch ohne Besinnung ist?«

»Auch dann!«

Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Es ist ein verdammt holpriger Weg! Ich würde es noch nicht wagen. Warten wir ab, was in vier Tagen ist.«

Der Bau an der Talsperre ging unterdessen in der bisherigen Reibungslosigkeit weiter. Die beiden Techniker leiteten jetzt den Bau, Vorarbeiter Drago Sopje war zum Bauführer befördert worden und hatte die Kolonnen unter sich. Die Brücken wuchsen weiter, die Straße wurde durch Felssprengungen verbreitert, im Tal, unterhalb der Staumauer, die immer mehr unter den Verschalungen hervorwuchs, wurde das Turbinenhaus errichtet... große Hallen mit gläsernen Wänden und dicken Betonböden, auf denen einmal die rauschenden, sich drehenden Ungetüme stehen würden.

Meerholdt ging nicht mehr aus seiner Konstruktionsbaracke hinaus. Er saß entweder bei Rosa am Bett oder schlief unruhig im Nebenzimmer, aß, was Bonelli ihm vorsetzte, und stärkte sich mit Tokajer und starkem Kaffee.

»Sie sind unvernünftig«, ermahnte ihn der Arzt. »Sie liegen garantiert unter der Erde, wenn Rosa geheilt entlassen wird! Was haben Sie damit gewonnen? Seien Sie doch vernünftig. Sie können das Schicksal nicht durch Asketentum und Drogenfresserei zwingen!«

Am dritten Tage, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, erwachte Rosa aus ihrer tiefen Bewußtlosigkeit. Sie schlug die Augen auf und sah Katja, die neben ihr saß und an einer Decke stickte.

»Katjascha.«, sagte sie leise.

Katja ließ die Decke fallen und sank auf die Knie. Sie nahm die Hände Rosas und küßte sie. »Du bist wach«, stammelte sie. »Du bist zu uns zurückgekommen. O Rosanja. Gott ist doch gnädig.«

Meerholdt stürzte ins Zimmer. Ihm folgten Bonelli, sein Gesicht glänzte. »Mädchen!« rief er laut. »Wir haben gesiegt! Du bist wach!

Heute wird der Chianti über die Straßen fließen.«

Der Arzt kam und warf alle aus dem Zimmer. »Raus!« schimpfte er. »Ihr macht sie verrückt mit eurem Geschrei! Still sollt ihr sein!!« Dann hörte er das Herz ab und nickte zufrieden. »Es geht ja wieder, Rosa«, sagte er erfreut. »In ein paar Tagen kommst du nach Sarajewo, und in drei Wochen merkst du nichts mehr von all dem.«

Rosa schloß die Augen. Sie atmete schneller und kratzte mit den Fingern nervös über die Decke.

»Was ist mit Jossip?« fragte sie.

»Danach sollst du nicht fragen. Du sollst überhaupt nicht daran denken.« Der Arzt setzte sich auf das Bett und nahm ihre schlaffe Hand. »Du mußt denken, daß alles ein Traum war, ein böser, wilder Traum. Und nun bist zu erwacht, die Sonne scheint, die Blumen duften, von den Bergen stürzt das Wasser ins Tal, die Schafe weiden auf den Wiesen, und alles riecht nach Wald und Erde. Das ist das Leben, Rosa . du siehst es jetzt. Warum an diesen Traum denken. Sieh doch aus dem Fenster. Dort, der Wald . wie wunderbar steigt er den Berg hinauf. Als Kind hast du oft hinter einem Stamm gesessen und hast drei kleine Bären belauscht, die in der Sonne spielten. Und im Winter hocktest du am Fenster der Hütte und sahst aus dem Wald die Wölfe kommen, hungrig, heulend, und dein Vater ging hinaus mit den anderen Bauern und tötete sie mit Äxten und langen, spitzen Gabeln. Wie wunderbar ist doch das Leben.«

Rosa nickte schwach. Sie drückte die Hand des Arztes.

»Danke«, sagte sie leise. »Danke, Doktor.« Sie wandte den Kopf ab und seufzte. »Hat er ihn getötet.?«

Der Arzt schob die Unterlippe vor. »Nein! Er lebt! Aber er wurde sehr verletzt. Wir suchen ihn seit Tagen.«

»Er hat eine Höhle, in der er sich versteckt.«

»Ich werde es sofort Herrn Meerholdt sagen.« Der Arzt erhob sich. »Und du mußt ganz ruhig bleiben und ein wenig essen. Nach dem Essen schläfst du wieder ein bißchen.«

Er nahm aus seiner Tasche eine Spritze, setzte die Nadel ein und zog aus einer kleinen Flasche eine wasserhelle Flüssigkeit auf. Dann beugte er sich über sie, reinigte eine kleine Stelle des Unterarmes mit einem Wattebausch und Alkohol und injizierte das Mittel. Rosa zuckte bei dem Einstich zusammen, aber als sie den Kopf umwandte, war die Nadel schon wieder heraus.

»Es beruhigt die Nerven«, sagte der Arzt. »Du mußt ganz, ganz ruhig werden.«

Sie nickte und begann schon zu schlafen, als der Arzt das Zimmer verließ. Meerholdt, der an ihm vorbei zu Rosa wollte, hielt er fest.

»Bleiben Sie hier! Sie schläft jetzt ... es ist keine Bewußtlosigkeit mehr, sondern eine Art Heilschlaf. Bei großen seelischen Schocks machen wir das jetzt öfter ... eine Ausschaltung der Nerven bis auf ein Mindestmaß der Funktionen und damit eine vollkommene Beruhigung des Körpers und dessen, was der Laie Seele nennt. Stören Sie sie nicht.« Der Arzt sah sich um. »Wo kann ich Hauptmann Vrana erreichen?«

»Ich nehme an, bei der Wache am Berg.« Meerholdt musterte den Arzt. »Warum, Doktor?«

»Rosa hat verraten, daß er in einer Höhle lebt!«

»In einer Höhle?« Meerholdt faßte den Arzt am Arm. »Kommen Sie - ich gehe mit! Wenn es eine Höhle ist, dann kann es nur die sein, die wir suchen ... die Höhle mit dem eingeschlossenen See!« Meerholdts Augen wurden starr. »Mein Gott«, stöhnte er. »Wenn Jossip die dünnste Stelle des Felsens weiß und sprengt sie auf. Wir würden alle in Sekundenschnelle ertrinken!«

Der Arzt erbleichte. »Sie malen den Teufel an die Wand.«

»Ich brauche ihn nicht zu malen! Er ist da! Kommen Sie schnell!«

Sie rannten aus dem Haus und durch das Lager. Am Ausgang zum Wald trafen sie Hauptmann Vrana. Er machte eine Art Strafexer-zieren mit dem Soldaten, der den Geologen angeschossen hatte. Hin und her jagte er den Armen durch eine Zementgrube, bis die Uniform nur noch eine dicke, langsam erstarrende Zementschicht war. »In einer Stunde trittst du mit sauberer Uniform und gereinigten

Waffen wieder an!« brüllte er, als er die Männer auf sich zulaufen sah. »Hau ab, du Vollidiot!«

Der Soldat rannte zum Zeltlager, einen nassen Zementstreifen hinter sich herziehend.

Hauptmann Vrana war mit sich sehr zufrieden.

Jossip lag in seiner Hütte und stöhnte.