Sie schielte zu ihm hinüber. Er lag an der Tür, gekrümmt, mit den Händen den Verband aus Blätter- und Wurzelbrei gegen die Knie drückend. Die große Wunde an der Schulter war gerötet und brandig ... sie hatte es am Vormittag gesehen, als er sie auswusch. Nur ein paar Tage noch, dachte sie, und er wird zusammenbrechen. Auch seine Kraft ist einmal zu Ende, jeder Mensch, auch Jossip, hat eine Grenze, an der jede Duldung aufhört und der Zusammenbruch erfolgt.
Gegen Morgen verließ Jossip die Hütte. Er schloß sie wieder ab und wälzte mit verzerrtem Gesicht und lautem Stöhnen die Steine vor die Tür. Durch die Ritzen an den Fensterläden sah Elena, wie er ins Tal hinabschwankte, sich an den Felsen vorwärtstastend, als sei er schon blind vor Schmerzen.
Aus dem Tal stieg der Frühnebel und ließ die Sonne in einem milchigen Brei schwimmen. Ein Adler kehrte aus dem Wald zurück, er schwebte lautlos durch die Nebelschwaden zu seinem Horst.
An einem Bach sank Jossip nieder und hielt die Knie in das kalte, fließende Wasser. Er wimmerte vor Schmerzen und starrte in die Sonne, als könne sie ihm helfen.
Stanis Osik saß in der großen Konstruktionsbaracke und trank eine Tasse starken Tee. Hauptmann Vrana lehnte am Fenster und rauchte unruhig. Meerholdt ging im Zimmer auf und ab.
»Ein Fiasko«, sagte er erregt. »Ein völliges Fiasko! Unsere Lautsprecheraktion ist verpufft!«
»Ich habe es gleich gesagt! Mit solchen Dingen kann man Jossip nicht beikommen! Versprechungen und dergleichen ziehen nur bei zivilisierten Menschen - sie glauben das! Jossip ist ein Stück Wild -und Wild wittert immer die Gefahr!« Hauptmann Vrana lachte. »Das ist der Segen der Zivilisation - sie macht den Menschen zu gutgläubigen Trotteln und erstickt ihren Instinkt. Eine Zeitung schreibt was, ein Radio bellt etwas heraus, ein Staatsmann, ein Politiker, ein Redner, ein Philosoph sagt irgend etwas - und der gebildete Mensch glaubt es! Er zieht dem Wort nach wie einem Magnet ... der Fuchs aber zieht der Füchsin nur nach, wenn sie heiß ist - ich finde das natürlicher! Und Jossip ist ein Fuchs, für ihn sind Worte nur Schall. Er weiß, was ihn erwartet!«
»Ich habe ihm Straffreiheit zugesichert.«
Vrana hob beide Hände. »Zugesichert! Was ist eine Zusicherung? Er wird nicht von Staatswegen bestraft - aber wer kann verhindern, daß zweihundert Arbeiter Jossip aus Ihrem Zimmer herausreißen und einfach lynchen? Können Sie das verhindern?«
»Das ist doch Dummheit.« Osik schob die Teetasse fort. »Keiner hätte ihn gelyncht!«
»Wissen Sie das so genau?« Vrana lächelte hämisch.
Meerholdt fuhr herum. »Wenn Sie so reden, Herr Hauptmann, dann haben Sie hier Ihre Hand im Spiel. Dann haben Sie schon zweihundert Mann organisiert, welche die sogenannte >Volksmei-nung< darstellen und einen legalisierten Mord begehen!«
»Mord? Mein bester Herr Meerholdt - Sie verkennen die Wut der Volksseele! Ich bin nur ihr Fürsprecher, weiter nichts.«
»Sie sind Soldat! Offizier!«
»Aber doch immerhin ein Kind dieses Volkes!«
Stanis Osik sprang auf. »Lassen Sie diese albernen Phrasen weg,
Vrana! Sie haben einen Verrat geplant ... fast kann man Jossip bewundern, daß er Sie so gut durchschaute und in seinem Fuchsbau blieb! Aber das Los meiner Tochter ist dadurch nicht gemindert worden, im Gegenteil - jetzt wird Jossip sie besonders scharf bewachen! Er weiß jetzt, daß wir nicht an ihren Tod glauben! Ein Toter ist eine reale Sache ... er schweigt vor allem! Aber ein Entführer kann ausbrechen, er kann sich bemerkbar machen, er ist eine Gefahr! Glauben Sie, daß Elena zart behandelt wird? Ich nicht! Und darum ist ihre Einstellung eine Gemeinheit!«
Er brüllte plötzlich. Hauptmann Vrana wurde blaß.
»Ich verwahre mich dagegen! Ich bin Offizier!«
»Ein Dreckskerl sind sie!« schrie Osik. »Ein Misthund! Ein Scheißhaufen!«
»Herr Osik!« Vrana trat ein paar Schritte vor. »Ich werde das nach Belgrad melden! Ich werde um die Erlaubnis bitten, mich mit Ihnen duellieren zu dürfen!«
»Einen Scheißdreck dürfen Sie!« Osik hieb mit der Faust auf den Tisch. Die Teetasse sprang empor und klirrte zu Boden. Pietro Bonelli steckte den Kopf durch die Tür; als er sah, welche Luft im Zimmer herrschte, verzog er sich schnell. »Melden Sie es nach Belgrad! Ich werde auch etwas melden! Ich werde mit Marschall Tito selbst sprechen und vorschlagen, daß Ihnen eine ganze Kompanie in den Hintern tritt, ehe man Sie auf die Straße wirft!« Er schob Vrana, der etwas antworten wollte, mit einer Armbewegung zur Seite und trat an das Fenster. »Dort oben, in den Felsen, dort muß Jossip sein! Mein Gott - es sollte doch nicht so schwer sein, auf einem so kleinen Raum ein Versteck zu finden!«
»Die schwarzen Berge sind ein einziges Labyrinth.« Meerholdt beugte sich wieder über die Karte. »Sehen Sie bloß diese Luftaufnahmen an! Zerklüftet wie ein Mondgebirge! Wir brauchen Jahre, um einen Flecken von einem Quadratkilometer bis ins einzelne zu untersuchen!«
Stanis Osik schnaufte. Er wischte sich mit seiner schwammigen Hand über die Augen. »Ich werde selbst mit Jossip reden!«
Vrana lächelte maliziös. »Sie?«
»Ja. Ich. Ich werde allein mit einem Lautsprecher in den Berg gehen und mit ihm reden! Und keiner folgt mir! Und wenn Sie, Vra-na, eine Dummheit machen und Ihre Dreckskerle herumpostieren oder sogar selbst in die Nähe kommen, knalle ich Sie ab! Und ich werde es in Belgrad verantworten können!«
Hauptmann Vrana schwieg. Er kannte den langen Arm Osiks bei Marschall Tito, er wußte, daß Osik Recht bekam, wenn er wollte, er wußte, daß er nur ein Stück Dreck war, das in einer Hauptmannsuniform steckte und Befehle entgegennahm.
Ralf Meerholdt sah von der Karte auf.
»Darf ich Sie begleiten, Herr Osik?«
»Auch Sie nicht, Meerholdt! Keiner!«
»Jossip ist zu allem fähig. Er könnte Sie überwältigen.«
»Was hätte er davon?«
»Was hatte er davon, als er Elena entführte? Als er ihren Tod vortäuschte - wir wollen hoffen, daß er vorgetäuscht ist!«
»Das kann ich Ihnen sagen: Er wollte die Arbeit am Stauwerk stoppen! Er wollte Unruhe in die Leute bringen! Er wollte auf kalte Art sabotieren! Ist es ihm nicht gelungen?! Hatten Sie nicht einen Aufstand im Lager?! Stockte der Bau nicht fast zwei Wochen lang, bis auf die notwendigsten Arbeiten? Jetzt hat er sein Pulver verschossen - er weiß es! Sein Plan zieht nicht mehr - und er behält Elena nur aus eigener Sicherheit. Sie soll ihn nicht verraten ... vor allem nicht seinen Schlupfwinkel! Kann man es ihm verübeln? Er mißtraut allen!«
»Weil er selbst ein Schwein ist!« Vranas Stimme war heiser vor Wut.
»Weil er Sie kennt!« Osik wandte sich ab. »Heute abend steige ich auf! Meerholdt, Sie fahren mir den Lautsprecher bis zum Waldrand und verschwinden dann. Und Ihre komischen Typen, Hauptmann Vrana, die Sie da oben zur Bewachung des Felsens und der dusseligen Quelle postiert haben, ziehen Sie zurück! Überhaupt das Bächlein. Meerholdt, ich hätte nicht solch einen Wind darum gemacht! Die Bohrungen haben ergeben, daß sich unmöglich ein einge-schlossener See im Felsen befinden kann. Unmöglich! Überall nur Stein! Wer weiß, wo das Wässerlein herkommt ... ich ziehe auch die Bohrkolonnen heute noch zurück! Sie kosten nur ein Schweinegeld und nützen doch nichts! Ich kann sie für einen Tunnelbau bei Sje-nica besser gebrauchen!«
»Wie Sie wollen, Herr Osik.« Ralf Meerholdt zuckte mit den Schultern. »Ich könnte immer noch schwören, daß dieses Wasser nur ein Abfluß eines großen Sees ist! Trotz der mißlungenen Bohrungen!«
»Schwören Sie nicht! Das klingt so bestimmt... und dabei haben Sie nur eine Vermutung, die sich auf keinerlei Tatsachen stützt als auf ein dummes Gefühl! Wenn ich nach meinem Gefühl gegangen wäre, würde ich heute Besitzer eines Harems von 4.000 Frauen sein, aber nicht einer Baufirma! Gefühle, die Geld kosten, sind Luxus!«