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Ralf Meerholdt schwieg. Was sollte er auch dagegen sagen? Osik zu überzeugen von einer Sache, von der er von Beginn an nicht überzeugt war, schien aussichtslos. Er hatte das schon einmal erlebt, damals, in Zagreb, als er bei dem Bau einer Brücke behauptete, der Unterboden des einen Pfeilers sei Fließsand und würde in ein paar Jahren abrutschen und die Brücke auseinanderreißen. Osik hatte gelacht und sich an die Stirn getippt! »Der Boden ist Fels, Meerholdt!« Die Brücke wurde gebaut... und schon nach sechs Monaten rutschte der Pfeiler um zehn Zentimeter nach unten und die Brücke stand schräg. Osik schrie damals und ließ sich dazu hinreißen, den Statiker, der die Berechnungen gemacht hatte, in den Hintern zu treten. Diese Art von Gefühlsausbruch ist in slawischen Ländern weit verbreitet, und man mißt ihr nicht die hochbeleidigende Wirkung bei wie in unseren Gegenden. Er ist mehr der Ausdruck eines kräftigen Mißfallens und eines Tadels, für den es noch keine Wortbezeichnung gibt als eben die Demonstrierung des Tritts. Damals hatte Meerholdt jedenfalls recht behalten und stieg sehr im Ansehen Osiks.

War es heute anders? Osik verneinte den See. Meerholdt spürte seine Anwesenheit fast körperlich. Aber er schwieg . man soll nie zuviel sagen, auch, wenn es wahr ist, dachte er. Es gab ein chi-

nesisches Sprichwort, das er nie vergessen hatte: Ein Esel schreit, ein Kamel brüllt ... aber der Tiger ist lautlos, wenn er seine Beute sieht.

Stanis Osik stand noch immer am Fenster und schaute hinaufin den Bergwald und auf den großen Felsen. Seitdem es für ihn gewiß war, daß Elena noch lebte, hatte sich seine Lethargie in eine Betriebsamkeit verwandelt, die der Arzt verbrecherisch gegenüber dem kranken Herzen nannte. Es gab auf einmal nichts mehr, was Osik nicht in die Hand nahm ... die Befreiung Elenas war nur eines der Dinge, um die er sich kümmerte. Er war auf den Bauten, er inspizierte die Lager, er kontrollierte die Materialnachschübe, er verglich die Arbeitsblätter der Kolonnen mit der Abrechnung, er sah sogar in Bonellis Kantine und Küche hinein und erlebte hier einen kleinen Schock.

Bonelli, kein Angestellter Osiks, sondern ein Kantinenpächter auf eigene Rechnung, betrachtete den schnüffelnden Osik mit schiefem Kopf. Er wurde unruhig, als Osik eine Flasche Slibowitz aus der Kühltheke nahm und sich ein großes Glas einschüttete.

Osik trank es in einem Zug leer, stutzte, nahm die Flasche wieder aus dem Kühlloch der Theke, las die Aufschrift, schüttelte den Kopf, goß sich noch ein Glas ein und trank es. Dann stellte er die Flasche mit einem Krach auf den Tisch.

»Was ist das!« fragte er laut.

Bonelli schwitzte und kam langsam näher.

»Slibowitz.«

»Das hier?« Osik zeigte auf die Flasche.

»Ja. Es steht ja drauf!«

»Was drauf steht, braucht noch lange nicht das zu sein, was drin ist!« Osik schnaufte wieder. »Und Slibowitz ist nicht drin!«

»Sie müssen's ja wissen.« Bonelli grinste frech. »Ich habe es als Slibowitz in Sarajewo selbst eingekauft.«

»Wo?« wollte Osik wissen. Bonelli zuckte mit Armen, Schultern und Beinen.

»Den Laden kenne ich nicht mehr! Ich bin ja fremd in Sarajewo.

Es war ein kleiner Laden.«

»Dann fahren wir zusammen nach Sarajewo, und du zeigst mir den Verbrecher! Das ist Wasser mit Alkoholgeschmack.« Osik goß sich noch einmal ein Glas voll und kippte es hinunter. Er schüttelte sich. »Bei allen Ikonen - das ist eine Sauerei! Und du verkaufst es den Arbeitern als echten Slibowitz?!«

»Es steht ja auf der Flasche«, beharrte Bonelli eisern.

Er grinste frech, aber es war ihm nicht wohl in seiner Haut. Kommandieren konnte ihn Osik nicht . dazu war er ein freier Mann. Aber er konnte den Arbeitern sagen: Trinkt keinen Tropfen mehr bei Bonelli! Der Kerl betrügt euch! Wen ich ab heute bei Bonelli sehe, dem kündige ich! Und dann war Bonellis Kantine nur noch einen Haufen Dreck wert, und er konnte Zabari auf dem schnellsten Wege verlassen, ehe man ihm beide Augen auf einmal blau schlug. Es war eine sehr dumme Situation für Bonelli.

Stanis Osik setzte sich vor die Theke.

»Was hast du außer Slibowitz?« fragte er.

»Tiroler Wein.«, stotterte Bonelli.

»Weiter!«

»Anisette . Pfefferminz . einen Anis . Cinzano . Aperitif . Kognak.« Bonelli schwitzte ehrlich und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Und so weiter.«

»Und alles ist so ein Mist wie dein Slibowitz?« Osik trommelte mit den dicken Fingern auf die Tischplatte. »Gib mir einen Kognak.«

Bonelli seufzte. Er griff unter die Theke und goß seinen geliebten Napoleon ein . den Privatkognak, der rein war wie kein anderer. Diesen brachte er Osik. Stanis roch am Glas . er sah Bonelli an . er roch noch einmal und trank dann den Kognak mit kleinen, genießerischen Zügen.

»Hm!« machte er. »Woher, du alter Gauner?«

»Direkt aus Frankreich!«

»Und was kostet ein Glas?«

Bonelli sah an die Decke. »Herr Osik - gibt es einen hier in Zabari, der einen solchen Tropfen zu würdigen weiß? Nur drei, Herr

Osik! Sie, Herr Meerholdt und ich! Darum ist der Kognak unverkäuflich!«

»Und was kriegen meine Arbeiter?«

»Eine Spezialmarke! Wollen Sie sie probieren?«

»Der Himmel bewahre mich davor! Ich habe von deinem Spezi-al-Slibowitz genug!« Osik sah Bonelli aus seinen kleinen Augen an. »Wieviel Prozent Wasser setzt du zu?«

Bonelli kaute an der Oberlippe. »Ich verstehe nicht.«

»Wieviel Wasser?« brüllte Osik.

»Auf sechs Flaschen eine ganze Flasche!«

Stanis Osik hieb sich auf die Schenkel. »Du Erzgauner! Du Höllenhund!«

Bonelli hob wieder die Hände. »Ich tue es nur aus gesundheitlichen Rücksichten. Alkohol in starkem Maße erregt die Sinne! Alkohol macht süchtig. Alkohol hebt den Drang nach den Frauen.«

»Halt's Maul«, sagte Osik grob.

»Und wir haben keine Frauen hier! Wir leben wie auf einer Insel. Darum dachte ich: Mische ein wenig Wasser in den scharfen Schnaps ... das tut den Armen gut! Wasser schadet nicht, Wasser beruhigt. Ich habe es nur aus Menschenfreundlichkeit getan ... aus purer Nächstenliebe! Ich habe mit ihnen gefühlt und kenne ihre Nöte! Glauben Sie mir.«

Stanis Osik erhob sich. Er betrachtete Bonelli wie ein ausgestelltes Gemälde. »So etwas wie dich müßte man in Spiritus legen und für alle Zeiten aufheben!« sagte er. »Eine solche Ansammlung von Frechheit und Schlauheit haut einen glatt um!« Er faßte Bonelli an den Rockaufschlägen und zog ihn zu sich heran. »Ab morgen bekomme ich täglich eine Flasche Napoleon, verstanden?!«

»Sehr gut, Herr Osik!«

»Und deine Spezialmischungen behältst du bei!«

»Jawohl, Herr Osik!« schrie Bonelli. Er strahlte.

»Aber -« Osik hob die Hand. »Du verkaufst sie ab heute zum halben Preis.«

Bonelli warf die Flasche Slibowitz gegen die Wand, als Osik die

Kantine verlassen hatte, und fluchte wie ein piemontesischer Eseltreiber. Dann kletterte er auf einen Stuhl und änderte auf der Preistafel, die über der Theke hing, die Preise um. Und jedesmal, wenn er einen alten Preis durchstrich und einen neuen dahinter setzte, seufzte er tief auf und bestätigte sich immer wieder, daß er ein schweres Schicksal habe.

Der Zustand Rosas besserte sich zusehends. Der Bluterguß war zurückgegangen, die Rippen schmerzten nicht mehr ... der Arzt hielt es nicht für nötig, sie nach Sarajewo zu bringen und zu röntgen. »Wir haben es schlimmer gesehen, als es ist«, sagte er zu Meerholdt nach der letzten Untersuchung. »Es ist das alte Lied. Katzen sind zäh!« Dabei lächelte er zufrieden und zwinkerte Meerholdt zu. »In zwei Tagen darf sie sogar aufstehen . die frische Bergluft wird ihr gut tun und sie kräftigen. Nur -« Der Arzt hob den Zeigefinger wie ein Lehrer - »keine Aufregungen! Auch nicht -« er hüstelte -»in der Liebe! Schonung, mein Bester. Vollkommene Schonung. Das muß man den Männern sagen, sonst vergessen sie, daß sie in erster Linie Beschützer, und dann erst Liebhaber sein sollen! Ihre Seele ist kränker als ihr Körper . ihre Nerven haben einen Stoß bekommen, und nun schwingen sie noch nach. Erst, wenn sie ganz zur Ruhe gekommen sind, können Sie mit Rosa wieder Turteltäubchen spielen!«