Meerholdt fand die Ausdrucksweise des Arztes ein wenig zu kraß, aber er lächelte und gab ihm die Hand.
»Ehrenwort, Sie Pillendreher - ich werde Rosa wie ein rohes Ei behandeln.«
»So wieder auch nicht! Gerade Liebe heilt die Nerven vorzüglich. Ein Küßchen, ein bißchen Streicheln, Schmusen - wie man so sagt -das hilft ungemein! Gerade bei Frauen!«
Meerholdt nickte. »Auch das werde ich tun, Doktor. Darf ich ihr wenigstens sagen, daß ich sie heiraten will?«
»Selbst damit würde ich warten, Herr Meerholdt. Gerade diese Aus-sicht würde in ihr einen Sturm entfachen. Und alles, was stürmt, alles, was sie erregt - ob es das Schlechte oder das Schöne ist -, wollen wir vermeiden.« Der Arzt rollte seinen weißen Mantel zusammen und steckte ihn in die Aktentasche. »Ich würde vorschlagen, ein paar Wochen abzuwarten und dann mit Rosa an das Meer zu fahren. Nach Dubrovnik oder Split oder auf die Insel Hvar. Dort hat sie die kräftige, salzige Meerluft und wird völlig gesunden. Und dort - eigentlich sehr romantisch, Herr Meerholdt - unter Palmen, am weißen Strand und blauen Meer, können Sie ihr sagen, was Sie vorhaben.«
»In ein paar Wochen.« Ralf Meerholdt sah zu Boden. »Wer weiß, was in wenigen Tagen ist... was morgen ist! Ich habe ein ganz dummes Gefühl, Doktor! Ich habe das immer gehabt, wenn etwas in der Luft lag. Damals, im Krieg, träumte ich im Bunker - es war bei Orel - daß ich eine Puppe sei und man meinen linken Arm abschraubt. Ein verrückter Traum. Drei Tage später wurde ich verwundet, als wir eine russische Stellung stürmten ... am linken Arm! Auch jetzt habe ich eine Unruhe in mir ... ich ahne eine Gefahr, ohne sagen zu können, was es ist und woher sie kommt!«
Der Arzt nickte. »Sie sind überreizt, Herr Meerholdt. Die letzten Wochen und Tage waren auch für Sie eine Nervenprobe! Das geht nicht spurlos vorbei. Man steigert sich dann in eine Psychose hinein und glaubt am Ende selbst daran. Auch Sie sollten so bald als möglich Urlaub machen ... an das Meer mit Rosa, wie ich schon sagte. Sie haben es beide nötig!«
Meerholdt nickte und lächelte schwach. »Wie schön ist es, Arzt zu sein! Man hat dann für alles eine medizinische Erklärung und eine Therapie bei der Hand. Psychose ... Nervenknacks ... neuro-vegetative Störungen. Therapie: viel Ruhe, keine Aufregung, gutes Essen, viel Gehirnnahrung. Medikamente mit Glutamin. Nein, nein, Doktor - so einfach ist das nicht in Zabari! Hier geht es um eine Naturauseinandersetzung, die man medizinisch nicht angehen kann. Vielleicht philosophisch ... aber das wäre ein Gebiet, das jenseits aller Realität liegt! Hier aber ist Realität! Wenn Sie sich um-blicken, Doktor, dann sehen Sie es plötzlich, vorausgesetzt, daß Sie einen Blick für diese Dinge haben: Die Felsen, der Wald, das Tal, die Schluchten, die Bäche, die Menschen, die Tiere, die Erde und der Himmel ... alles, was Sie hier sehen, ist gegen uns feindlich eingestellt! Wir sind in eine jahrtausendealte Ordnung eingebrochen und wollen sie in zwei Jahren umstellen nach einem nüchternen Bauplan, der hier in meinem Gehirn entstanden ist. Im Gehirn eines einzigen Menschen! Wir werfen alles um, was Jahrtausende bestanden hat... wir lenken die Bäche neu, wir sprengen in die Felsen Straßen, wir leiten Wasser in unfruchtbare Gebiete, wir schaffen künstliche Seen und zwängen das Wasser ein, um mit seiner Kraft Strom zu erzeugen. Strom, der Werke speist, Licht gibt und Energie entlädt, die diese ganze Landschaft neu bildet und formt! Landschaft und Mensch! Wir nennen es in den Konstruktionsbüros ein >Projekt<, -es ist in Wahrheit ein unerbittlicher Kampf gegen die Natur.« Meer-holdt atmete tief auf. »Und in diesem Kampf - das spüre ich - steht eine Wende bevor! Ich spüre es förmlich körperlich, Doktor.«
»Sprechen Sie mal mit Osik darüber«, sagte der Arzt beeindruckt.
»Osik!« Meerholdt winkte ab. »Ich habe es versucht. Er nennt es Hirngespinste! Er ist ein Rechner - aber er hat kein Gefühl für die Dinge, die ihn umgeben. Es heißt, jeder Mensch ist ein Sender und Empfänger . er hat ein Strahlungsfeld, das ihn umgibt.« Meerholdt lachte gequält. »Um es banal zu sagen: Bisher habe ich gesendet . meinen Willen ausgesendet . jetzt empfange ich plötzlich, und es ist eine starke Strahlung, von der ich nur nicht weiß, woher sie kommt!«
Der Arzt sah Meerholdt eine Weile schweigend an. Dann gab er ihm die Hand. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Meerholdt, aber als Mediziner muß ich Ihnen sagen, daß dies Auswirkungen eines überbelasteten und nicht zur Ruhe gekommenen Nervensystems sind. Spannen Sie aus, erholen Sie sich . ich garantiere, daß Ihnen dann diese >Gefahrstrahlen<, um einmal im spiritistischen Jargon zu sprechen, nicht mehr zu nahe kommen.«
Nachdenklich sah Meerholdt auf die Tür, die sich hinter dem Arzt schloß. Ausspannen ... am Meer liegen und den weißen, pulverfeinen Sand durch die Finger rinnen lassen ... das Rauschen des Meeres um sich und das Fächeln der niedrigen Palmen im warmen Wind, der herüber kommt von der Küste Afrikas ... der Wind der weiten Sahara.
Meerholdt schüttelte den Kopf. Unmöglich, das Werk zu verlassen! Noch ein Jahr - vielleicht noch ein halbes dazu ... dann stand der Damm, dann donnerten die Turbinen, dann surrte der Strom von Zabari über das Land der schwarzen Berge. Vielleicht war dann etwas Zeit, sich auszuruhen und das Leben für ein paar Wochen zu genießen ... ein paar Wochen nur, bis zur nächsten Einsamkeit, zum nächsten Bau. Dann würde Rosa seine Frau sein, er würde ein gemütliches Heim haben, und er würde wissen, wozu er sich in die Arbeit stürzte und für wen er das Geld auf der Bank von Belgrad deponierte.
Rosa ... ein Haus... Kinder ... ein Garten, in dem sie spielen konnten, ein Planschbecken. Er würde Rosen pflanzen und sich ein Gewächshaus anlegen ... viel Rasen sollte um das Haus sein ... viel Wiese, auf der man tollen konnte mit den Kindern.
Meerholdt lächelte verträumt. Wie weit das noch alles lag, wie phantastisch.
Er öffnete die Tür von Rosas Zimmer und ging hinein.
Die Einzelaktion Stanis Osiks in der Nacht war nur ein halber Erfolg. Immerhin - sie war ein Erfolg!
Osik hatte mit Jossip gesprochen!
Als Meerholdt das Mikrophon, die Kabel, den Verstärker und den Lautsprecher am Waldrand aufgebaut hatte und Osik verließ, wartete Stanis noch eine halbe Stunde, ehe er zu sprechen begann. Er hatte eine geladene Pistole neben sich liegen und beobachtete seine Umgebung mit einem starken Nachtglas.
Nichts rührte sich. Die vollkommene Stille umgab ihn. Nur der Mond zauberte Schatten und Lichtbündel zwischen die Bäume und verstärkte den Eindruck, daß die Berge Montenegros wirklich schwarz sind.
Stanis Osik zitterte ein wenig. Die Aufregung war stärker, als er sich eingestand. Er atmete hastig, ehe er das Mikrophon einschaltete und sich räusperte.
»Jossip!« sagte er. Seine Stimme hallte durch den Lautsprecher weit in die Berge hinein. Stanis Osik lauschte ihr und dem Echo, das zweifach zurückgeworfen wurde. »Jossip Petaki ... hier spricht Sta-nis Osik! Der Vater Elenas. Ich bin allein, ganz allein am Rande des Waldes! Ich gebe dir mein Wort, daß ich allein bin und daß keiner im Umkreis von 500 Metern bei mir ist. Ich möchte dich sprechen, Jossip - ohne Hinterlist, ohne, daß dir etwas geschieht!«
Jossip lag wieder am Bach und kühlte seine Kniewunden, als er die Stimme Osiks hörte. Er zuckte auf, ergriff seine Axt und kroch dem Felswege zu, der den Wald von dem Berg trennte. Dort lag er zwischen den Steinen und lauschte. Er sah Osik am Waldrand sitzen, allein, vor sich den Lautsprecher, das Mikrophon in der Hand.
Jossip wartete.
In der Hütte erreichte die Stimme Osiks Elena, die am Herd stand und kochte. Sie zuckte zusammen, als sie die Worte hörte, und ließ den Topf fallen, den sie in der Hand hielt.