»Vater.«, stammelte sie. »Vater.« Dann schrie sie auf, stürzte auf die Tür zu, rüttelte an ihr und schrie, schrie. »Vater! Hilf mir! Vater!! Hilfe Hilfe!!« Sie schlug mit beiden Fäusten gegen den Balken, sie trat dagegen, sie rannte in sinnloser Verzweiflung mit der Schulter gegen die dicken Bohlen, bis der ganze Körper schmerzte und sie wimmernd an der Tür auf die Knie fiel. »Mein Gott!« stammelte sie. »Hilf mir doch! Mein Vater ist hier . mein Vater!«
Jossip lag auf der Erde und lauschte. Stanis Osik sprach weiter.
»Ich habe dir gestern 100.000 Dinare geboten, wenn du Elena freigibst. Du sollst sie auch heute noch haben. Du brauchst sie nicht selbst zu bringen . laß sie frei laufen, und sie wird nicht verraten, wo dein Versteck ist! Die 100.000 Dinare lege ich dir hier an den Waldrand hin .du kannst sie nehmen und wegziehen und ein schö-nes Leben führen. Niemand wird dich suchen. Hörst du mich, Jos-sip?«
Jossip kniff die Augen zusammen. Er richtete sich hinter einem dicken Stein auf und lehnte sich dagegen. Stanis Osik hielt den Atem an ... er starrte in die Dunkelheit und die hellen Flecken, die der Mondschein auf den Boden zauberte. Sein Herz schlug wie eine Trommel ... er preßte die Hand auf die Brust und ächzte.
Plötzlich fuhr er empor ... er umklammerte das Mikrophon und stieß mit dem Kopf nach vorn.
Eine Stimme ... eine Stimme aus den Felsen ... dünn, wie weit weg ... aber vernehmbar und deutlich.
»Ich brauche dein Geld nicht, Osik! Ich habe Elena nicht mitgenommen, um Geld zu bekommen!«
Osik spürte, wie kalter Schweiß über seinen Körper rann. Er stöhnte leise. »Aber sie lebt?« fragt er durch das Mikrophon.
»Sie lebt, und es geht ihr gut.«
»Das ist schön, Jossip.« Stanis Osik traten die Tränen in die Augen. »Warum gibst du sie nicht heraus?«
»Ich habe meine Gründe, Osik. Ich hasse dich nicht ... ich hasse auch Elena nicht, obgleich sie Rosa schlug. Meine Rosa, Osik! Ich hätte sie töten müssen dieser Schläge wegen.«
»Sie tat es aus Eifersucht, Jossip. Verstehst du das nicht? Gerade du nicht?«
Jossip schwieg. Er lehnte hinter seinem großen Stein und wischte sich über die Stirn. Gerade du ... sagte er. Gerade du. Eifersucht . sie macht wahnsinnig, sie macht toll, sie läßt den Menschen zum Mörder werden ... Jossip nickte.
»Geh weg aus Zabari, Osik«, rief er zurück. »Geh sofort weg! Es wird Schreckliches geschehen ... darum geh, Osik!«
»Nicht ohne Elena.«
»Ich verspreche dir, sie dir wiederzubringen! Sie und du und ich . wir werden die einzigen sein, die Zabari wiedersehen. Ich muß sie hierbehalten, um ihr Leben zu retten ... geht sie mit dir nach Zabari, wird auch sie getötet werden. Ich bringe dir Elena gesund nach
Sarajewo! Warte dort auf mich!«
Stanis Osik erhob sich und wollte der Stimme entgegenkommen. Jossip sah es und schrie.
»Bleib stehen, oder ich muß mich wehren!«
Osik blieb stehen, das Mikrophon in der Hand.
»Laß uns vernünftig sprechen, Jossip! Brauchst du etwas?«
»Verbandstoff und Mittel gegen Fieber und Wundbrand.«
Osik hob beide Hände. »Sei kein Idiot, Jossip! Das kannst du nicht selber heilen! Wenn du verwundet bist, mußt du zu einem Arzt!«
»In Zabari hängen sie mich auf!Lieber sterbe ich in meinen Bergen wie ein Stück Wild.«
»Ich werde dir die Sachen bringen.« Osik ging zurück zu seinem Klappstuhl und setzte sich. »Ich lege dir alles auf den Weg dort. Noch etwas?«
»Ja.« Jossips Augen leuchteten. Verbände, dachte er. Fiebermittel, Kühlung des Wundbrandes! Ich bin gerettet ... ich habe mein Leben wieder. Eine tiefe, fast hündische Dankbarkeit Osik gegenüber stieg in ihm empor. »Verlaß sofort Zabari, Stanis. Ich bitte dich darum. Hörst du . ich bitte dich! Ich schwöre dir bei Gott, daß Elena nichts geschieht!«
»Dann laß sie frei!«
»Sie würde mich verraten!«
»Nein. Wir werden morgen früh abreisen, wenn du Elena freigibst.«
Jossip schwieg. Er zögerte. Osik zitterte, wie ein Schüttelfrost überkam es ihn. Jetzt entscheidet es sich . jetzt wird er antworten. Osik drückte die Hand gegen das Herz. Er glaubte, zu ersticken.
Jossip schüttelte langsam den Kopf.
»Es geht nicht, Stanis. Ich habe Angst vor der Schwäche der Menschen.«
Stanis Osik hörte, wie Steine zu Tal rollten, wie in der Ferne ein Schritt durch die stille Nacht knirschte. Jossip ging. »Bleib!« schrie Osik grell. »Führ mich zu Elena . laß sie mich sehen . nur einmal sehen . einmal sprechen! Ich verrate dich nicht.«
Seine Stimme verlor sich in den Bergen . das Echo warf seine
Stimme zurück ... sie überschlug sich ein paarmal.
Er lauschte. Die vollkommene Stille war wieder um ihn. Der Mond wanderte ... die hellen Flecken auf dem Boden verschoben sich.
Jossip schwieg.
Da klappte Osik weinend seinen Stuhl zusammen und stieg hinunter ins Tal.
Dort, wo die Lichtung begann, wo die Holzfällerkommandos der Bautrupps das Bauholz schlugen, erwarteten ihn Meerholdt, der Arzt und Hauptmann Vrana.
Vrana rannte unruhig hin und her. Er stürzte auf Osik zu, als er aus der Dunkelheit des Waldes hervortrat, und fuchtelte mit beiden Armen durch die Luft.
»Haben Sie ihn erreicht?«
Osik nickte. »Ich habe ihn gesprochen.«
»Was?« Ralf Meerholdt fuhr sich mit dem Finger in den Kragen, als sei er plötzlich zu eng geworden. »Sie haben ihn gesprochen?«
»Ja.«
»Und Elena?«
»Sie lebt.«
»Sie lebt!« Hauptmann Vrana tobte. »Und Sie sind noch immer dafür, daß man diesen Kerl leben läßt und nicht ausräuchert?!«
»Ja. Er hat versprochen, Elena gesund zurückzubringen, wenn -«, er stockte und sah die drei groß und mit entsetzten Augen an - »wenn Sie und alle hier, alle in Zabari getötet sind!«
Hauptmann Vrana biß sich auf die Lippen. »Er ist verrückt geworden.«
Osik wandte sich an den Arzt. Er sah ihm ins bleiche Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was er vorhat! Aber es muß Irrsinn sein, denn solch ein Plan ist undurchführbar. Aber ich brauche Medikamente. Doktor . ich brauche einige Binden, Penicillinsalben, Schmerztabletten, Wunddesinfektionsmittel.«
»Und Zyankali!« sagte Vrana giftig.
»Ich habe Jossip versprochen, es ihm hinaufzuschicken.«
Vrana schlug sich an die Stirn. »Versprochen! Einem Verbrecher versprochen! Krepieren soll er wie ein toller Hund! Doktor, wenn Sie die Mittel herausgeben, legen Sie ein paar Pillen Gift bei! Schreiben Sie drauf:zum Schlafen! Es ist keine Lüge ... er wird danach schlafen!«
Stanis Osik sah Meerholdt hilfesuchend an. Die Unterredung mit Jossip hatte in ihm allen Widerstand gebrochen.
»Sorgen Sie dafür, Meerholdt, daß die Dinge an den Waldrand kommen, heute nacht noch! Er soll sehen, daß ich mein Wort halte. Dann wird er auch seines halten.«
»Die Spekulation auf die Verbrecherehre!« Hauptmann Vrana lachte höhnisch.
»Sie werden es hinauftragen, Meerholdt?« Osik beachtete Vrana nicht.
»Ja.« Meerholdt zögerte, aber dann sagte er es doch. »Ich hätte auch noch eine Bitte, Herr Osik.«
»Ja - und?«
»Lassen Sie ab morgen wieder den Felsen bewachen ... ich ahne, was Jossip vorhat!«
»Wie Sie wollen - mir ist alles gleichgültig! Elena lebt ... das ist mir mehr wert als hundert Staatsbauten.«
Als Jossip in seine verborgene Hütte zurückkam, unter dem Arm ein Paket mit Verbandszeug und Medikamenten, fand er Elena ohnmächtig an der Tür liegen. Sie hielt ein kleines Beil in der Hand, mit dem sie versucht hatte, die Tür aufzuschlagen. Er schüttelte den Kopf, nahm den schmalen Körper wie ein Kind auf die Arme und trug sie zurück zu dem Strohlager. Dann wickelte er das Paket aus, schluckte zwei Schmerztabletten und wusch seine Kniewunden und die Schulter mit Watte und einer Desinfektionslösung aus. Darauf legte er die Verbände an, nachdem er Penicillinpuder in die Wunden gestreut hatte. Die Knie verband er gut... aber bei der großen Schulterwunde stöhnte er oft und hielt die Verbandrolle mit den Zähnen fest, um die Mullstreifen fest um den Körper ziehen zu können.