Zwei Tage später durfte Rosa zum erstenmal aufstehen. Am Arm Meerholdts ging sie in die Sonne und wanderte ganz langsam über die Dorfstraße zu ihrem Haus. Fedor und Marina kamen ihr entgegen ... der Alte küßte sie auf die Stirn, und Marina weinte vor Freude und machte vor Meerholdt einen tiefen Knicks.
»Nur eine halbe Stunde«, hatte der Arzt gesagt. Meerholdt hielt sich streng daran und führte Rosa nach Ablauf der Zeit wieder zurück. Er schob ihr einen Sessel in die Sonne am Fenster, umwickelte ihre Beine mit einer Decke und setzte sich zu ihr. Bonelli und Katja brachten Früchte und Obstsaft und erzählten, daß sie bald heiraten wollten. Sobald die Mauer stand und ein großer Teil der Arbeiter wegzog, wollte auch Pietro Bonelli zurück nach Italien und Katja mitnehmen. Die Kolonnen, die später das Turbinenhaus ausbauten, kamen mit einer kleinen Kantine aus, deren Führung unter der Würde Bonellis war.
»Ich habe schon einmal Könige bedient!« renommierte er. »In Griechenland habe ich die Majestäten bewirtet, als wir einen Kanal bauten. Kinder - diesen Tag vergesse ich nie. >Bonelli<, sagte die Königin Friederike zu mir, >Bonelli, Ihr Steak ist ein Gedicht!< - >Ma-jestät<, habe ich da geantwortet, >das ist nur der Prolog ... wenn Sie den kommenden Braten probieren, wird es wie eine Hymne sein!<«
Katja war stolz auf ihren Pietro und himmelte ihn an. Josef Lu-kacz hatte sie seit dem letzten blauen Auge Bonellis nur einmal wieder gesprochen. Sie war am nächsten Morgen zum Materiallager gegangen, hatte sich Lukacz vor die Tür holen lassen, und dort, vor allen Leuten, vor den sich biegenden Arbeitern, hatte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und Josef vier kräftige Ohrfeigen gegeben. Lukacz ließ es mit sich geschehen ... wie ein geprügelter Hund schlich er in die Materialhalle zurück und fuhr am Mittag mit dem nächsten Wagen nach Plewlja. Er kam von da ab nicht wieder, sondern fuhr die Kolonne zwischen Plewlja und Niksic.
Rosa saß in der Sonne und war glücklich. Sie hielt die Hand Ralfs fest und hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihre langen Haare hingen über die Sessellehne bis fast auf den Boden.
»Bald ist es Sommer«, sagte sie. »Nun bist du schon ein Jahr bei uns. Ein ganzes Jahr. Es ist so schnell vergangen.«
Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. »Weißt du noch, wie ich zum erstenmal nach Zabari kam? Mit dem zerbrochenen Wagen, den sie später abschleppten und reparierten?«
»Du kamst damals in das Zimmer und hast mich nicht gesehen«, sagte sie. Sie lächelte vor sich hin. »Ich stand am Herd, und du warst so müde. Oh, ich weiß es noch ganz genau. Du hattest keinen Hut und keine Mütze auf. deine blonden Haare leuchteten im Schein des Feuers. Und am anderen Morgen hast du dich draußen am Brunnen gewaschen ... und wieder leuchteten deine Haare wie Gold in der Sonne. Schon damals habe ich dich geliebt.«
Sie drehte den Kopf zu ihm hin und strich mit den Fingerspitzen zärtlich über seine Augen.
»Sag ... wann hast du gemerkt, daß du mich liebst?«
Ralf zögerte. Wann war das, fragte er sich. Als er das zweite Mal nach Zabari kam, dachte er, mit dem Willen, Elena zu lieben, bis er Rosa am Wege stehen sah, mit dem großen Strauß Blumen am Arm, hinter dem sie ihr Gesicht verbarg. Damals küßte er sie ... doch wußte er damals schon, daß er sie so lieben würde, wie es heute selbstverständlich war?
»Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Es war plötzlich da. Ich spürte, daß deine Nähe mich glücklich machte, daß deine Stimme, deine Augen, deine Haare, dein Körper, daß alles an dir und aus dir mir fehlte, wenn ich es einen Tag entbehren mußte. Vielleicht war es da, Rosa.«
Sie nickte. »Wie lange bleibst du?« fragte sie leise. Er sah erstaunt auf.
»Warum fragst du? Bestimmt noch ein Jahr.«
»Ein Jahr noch.« Sie schloß die Augen. »Ich will dieses Jahr erleben wie keines vor ihm. Es wird das letzte glückliche Jahr sein.«
Er schüttelte den Kopf und drückte sie wieder an sich. »Es werden viele Jahre kommen, Rosa. Viele, viele Jahre des Glücks. Wir werden heiraten.«
Da weinte sie vor Freude wie ein Kind.
Kapitel 6
Einen Tag später - am frühen Morgen - entdeckte der Vorarbeiter und Schichtführer Drago Sopje einen Einbruch.
Die Hinterwand des Magazins war aufgesägt worden, ein paar Bretter waren gelöst, und der Dieb war in das Lager eingestiegen. Keiner hatte ihn gesehen, niemand hatte etwas gehört... der Einbruch mußte in den frühen Morgenstunden geschehen sein, als die Nachtschicht noch draußen arbeitete und die Frühschicht noch selig schlief.
Ralf Meerholdt und Stanis Osik besichtigten die Einbruchstelle und das Magazin.
»Es ist nichts gestohlen worden«, sagte Drago achselzuckend. »Die wertvollsten Sachen sind noch da. Nur drei dumme Sprengladungen fehlen und zweihundert Meter Zündschnur.«
»Was?!« schrie Meerholdt. »Zündschnur und Sprengladungen?!« Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, verständnislos sah in Osik an.
»Da will einer ein Feuerwerk machen.«, sagte er scherzhaft. Weiter kam er nicht, denn Meerholdt rannte wie gehetzt aus dem Magazin und stürzte in die Konstruktionsbaracke.
Sekunden später heulten die Alarmsirenen über Zabari. Aber nicht nur sie . auch die Katastrophenhörner gellten durch das Land, auf-und abschwellend, die Luft mit schauerlichem Geheul erfüllend.
Räumung der Bauten! hieß das. Sofortige Arbeitsniederlegung. Räumung des Dorfes . des Tales . alle Menschen weg aus Zabari.
Stanis Osik kam in das Zimmer. Er schwitzte und war ebenfalls bleich geworden.
»Sind Sie wahnsinnig geworden, Meerholdt?!« schrie er. »Was soll
der Unsinn?! Die Bauten werden ja geräumt!«
Von draußen hörte man das Trappeln tausender Füße ... die Arbeiter liefen zu ihren Baracken und rissen das Wertvollste aus den Spinden und Betten. Der Katastrophentrupp versammelte sich auf dem Lagerplatz ... im Dorf wurde das Vieh bereits aus den Ställen auf die Dorfstraße getrieben.
»Retten Sie alles, was Sie können, Osik!« schrie Meerholdt den Direktor an. »Organisieren Sie den Abzug der Bauern! Lassen Sie sofort das Zeltlager der Soldaten räumen .sie sollen den Abtransport des Viehs und der Bevölkerung leiten! Alle Arbeiter sofort auf die umgrenzenden Höhen! In spätestens einer Stunde darf kein Mensch, kein Tier mehr im Tal von Zabari sein!«
Osik fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf. »Sie sind irr, Meer-holdt!« brüllte er. »Was soll das?!«
»Retten Sie Ihr Leben! Ich habe keine Zeit zum Reden!«
Er stieß Osik zur Seite und rannte hinaus. Im Laufen nahm er seinen Revolver aus der Tasche, entsicherte ihn und keuchte den Berg hinauf, dem Wald entgegen.
Bauern kamen ihm entgegen, schnatternd ... eine Schafherde wurde in die Berge getrieben ... vierhundert Arbeiter auf Lastwagen fuhren bereits in die Felsenstraße hinein, während Vrana mit seiner Truppe den Ordnungsdienst aufrecht hielt. Keiner fragte mehr ... noch immer gellten die Sirenen ... es war, als habe sich ein Schrei gelöst, der in tausend Kehlen schlief..
Bonelli rannte jammernd herum und verlud Schnaps und Eßwaren auf ein kleines Auto. Katja schleppte Kisten herbei und stapelte die Waren auf dem Wagen.
»Was ist los?« schrie Bonelli. »Was soll das denn?! Wer weiß denn, was los ist?!«
Keiner wußte es ... aber alle liefen aus dem Tal ... ein schwarzer Strom von Menschen drängte zu der einzigen Straße hin und wälzte sich in die Berge hinein. Menschen, Tiere und Maschinen. Der Katastrophentrupp besetzte die Staumauer und die fertige Brücke . Hauptmann Vrana suchte Meerholdt, um Auskunft zu bekommen.