»Du kommst wieder, du kommst bestimmt wieder?« fragte sie später, als sie neues Holz auf das glimmende Feuer legte und die Flammen neu entfachte.
Meerholdt saß neben ihr und spielte mit ihrem langen Haar. Er nickte stumm auf ihre Frage und lehnte sich zurück an die rauhe Lehmwand. Etwas wie Scham hinderte ihn daran, Rosa anzusehen und mit ihr zu sprechen. Das Gefühl, das Gastrecht verletzt zu haben, schnürte ihm die Kehle zu.
»Wirst du mich mitnehmen in deine große Welt?« fragte sie. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, ihr Atem glitt über sein Gesicht.
Er nickte wieder. Aber dieses Nicken war zögernd und steif. Mitnehmen? durchführ es ihn. Mein Gott - wie kann ich Rosa mitnehmen nach Foca oder Sarajewo oder gar nach Köln? Einmal wird dieser Auftrag in Jugoslawien zu Ende sein, die Staudämme werden sich füllen, die Turbinen werden surren, durch die Leitungen wird der Strom knistern. Was wird dann aus Ralf Meerholdt werden? In Köln werden neue Aufträge warten . vielleicht Bauten in Indien oder Ägypten, in Saudiarabien oder Südamerika. Was wußte Rosa davon, wie wenig gehörte sie in diese Welt, die sie nie verstehen lernen würde! Sie war ein Geschöpf ihrer Berge, verwurzelt mit dem klaren Feld, das ihren Hunger stillte. Er stellte sich Elena vor . die elegante, pariserische Elena Osik, die einen Cocktail mischte und einen Boogie tanzte und die am Abend am Flügel saß und mit der gleichen Ausdauer, mit der sie tanzte, eine Sonate von Haydn spielte oder ein Rondo von Mozart. Und alles an ihr war vollendet ... der Charme, ihre Kleidung, ihr Körper, ihr Lächeln, ihr Tanz, ihre Sprache, ihre Bewegungen, ihr Spiel und ihr Wesen.
Ralf drückte Rosa an sich und blickte über ihren Kopf hinweg in die hohen Flammen des offenen Herdes.
Hier hielt er die Natur in seinen Armen, nichts weiter als die Natur. Sie war da wie das Wasser und die Sonne, die Felsen und die Wiesen, der Wald und der Regen, die Sterne und die Kälte der Nacht. Sie war nichts anderes als ein Teil der Urschöpfung, als ein Stück von Kosmos und Welt - sie war wie eine Pflanze oder wie ein Tier oder wie ein Stein oder wie ein Mensch. Ja, das war sie ... einfach nur ein Mensch. Nicht eine modifizierte Frau, ein gezüchtetes Geschöpf aus den Treibhäusern des Fortschritts, sondern nichts als ein Urstück dessen, was man Schöpfung nannte, ein Mensch, der wie die Natur empfand, der die Seele des >Werden und Vergehen< in sich trug, das einfache Gesetz des Reifens, Tragens und Sterbens. Und sie lag in seinen Armen, weil sie aufblühte und reif wurde unter seinen Küssen . sie, der Mensch Rosa.
»Du mußt Geduld haben, Rosa«, sagte er leise. »Es kann lange dauern, bis ich wiederkomme.«
»Ich werde warten.«
»Eines Tages wirst du einen anderen Mann sehen, einen Mann deines Volkes.«
Er konnte nicht weitersprechen, denn sie legte ihm ihre schmale
Hand auf den Mund und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich liebe nur dich . nur dich.«, sagte sie.
Er war erschüttert über die Festigkeit ihrer Meinung und schwieg. Nur der Druck in seiner Seele verstärkte sich und legte sich auf sein Gewissen.
»Wir müssen schlafen gehen«, sagte er leise. »Morgen früh müssen wir zurück über die Berge.« Er nahm ihren schmalen Kopf noch einmal zwischen seine Hände und küßte ihren Mund, ihre geschlossenen Augen mit den langen Wimpern und die Stirn. Dann erhob er sich schnell und ging in seine Kammer. Als er die Tür hinter sich schloß, blieb er stehen und lauschte zurück.
Nichts rührte sich. Kein Laut drang aus dem großen Raum. Rosa schien noch am Feuer zu sitzen, so, wie er sie verlassen hatte. Er zog die Jacke aus und warf sich auf das Graslager. Die Wolldecke drückte er zur Seite . es war heiß in ihm, und er knöpfte das Hemd über der Brust auf.
Ein leichter Schritt, er hörte ihn deutlich in der vollkommenen Stille, die ihn umgab. Rosas Schritt ... er kam auf die Tür zu. Ralf richtete sich auf, seine Hände krampften sich um die Schaffelle, auf denen er lag. Wenn sich jetzt die Tür öffnete ... wenn sie ganz leise, Zentimeter um Zentimeter aufgedrückt würde . wenn Rosa in seine Kammer kam, zu ihm, getrieben von der Kraft ihres wilden Blutes ... er wußte, daß es die Entscheidung war; er war sich plötzlich klar darüber, daß es kein Zurück mehr gab, wenn die Tür aufschwang und die Nacht heller wurde als unter tausend Sonnen.
Der Schritt, tappend, tastend, kam näher. An seiner Tür verhielt er . eine endlose Stille dehnte sich aus. Er starrte auf die Tür, er wartete auf den Augenblick, in dem sie sich bewegte, nach innen schwang und im Widerschein der Herdflammen die Gestalt Rosas erschien. Aber dann ging der Schritt weiter und verebbte in der Nebenkammer bei Fedor und Marina.
Aufatmend ließ sich Ralf auf seine Felle zurückgleiten. Eine Leere blieb in ihm zurück, eine unerfüllte Sehnsucht, trotz der Befreiung, morgen früh Zabari verlassen zu können, ohne Fedor um das liebste, was er besaß - sein Kind - betrogen zu haben.
Aber er schlief nicht ein. Er legte das Ohr an die geflochtene und mit Lehm beworfene Wand und lauschte auf das Rascheln in der Nebenkammer.
Jetzt zieht sie das leinene Kleid aus, dachte er.
Jetzt steht sie nackt im Zimmer, in der Dunkelheit, in der ihr Körper wie eine weiße Flamme brennen muß.
Er hielt den Atem an und hörte ein Knirschen nahe der Wand.
Jetzt legt sie sich hin, deckt sich zu mit den rauhen Decken aus selbstgesponnener Wolle, und ihr schwarzes Haar liegt um ihren weißen Leib, die langen lockigen Haare. Sie hat die Augen geöffnet und starrt an die Decke des Zimmers. Sie denkt an mich, sie drückt die Hände gegen ihre Brust, und die Sehnsucht durchrieselt sie und macht sie zu einem Tier, das hinaus möchte in das Leben, aber den Käfig nicht sprengen kann.
Er preßte die Stirn gegen die kalte Wand und seufzte. So schlief er nach einer Weile ein und sank in sich zusammen, halb sitzend und eingehüllt in die Decke, die Rosas Hände gewebt hatten.
Am Morgen war der Taumel vergessen. Der Fahrer und der Monteur standen schon mit dem Abschleppwagen vor der Tür und warteten. Ralf Meerholdt aß zum letztenmal eine Suppe aus Milch und Weizenmehl. Rosa war nicht im Haus. Fedor sagte, sie sei schon ganz in der Frühe in die Berge gegangen. Ralf nickte. Es ist gut so, dachte er. Sie ist klüger als ich. Sie kürzt den Abschied ab, sie rennt wie ein sterbendes Tier in die Einsamkeit und kommt erst zurück, wenn das Herz sich in der Stille ausgeschrien hat.
Der Fahrer saß auf der Bank und rauchte eine Zigarette. Einige Jungen und Mädchen umstanden den Wagen und bestaunten ihn wie ein Wunder. Josef Lukacz, ein junger Bauer, drückte sich durch den Kreis der Neugierigen und rückte an seiner Schaffellmütze, ehe er zu sprachen begann.
»Sag, Kamerad«, meinte er und zeigte auf den Wagen, »wenn dieses Auto den Wagen des Herrn trägt, dann kann es doch auch Stämme tragen.« »Der trägt dir in einem Tag einen ganzen Wald weg!« sagte der Fahrer.
»Und Steine auch?«
»Er schleppt alles weg! Mit dem Wagen könntet ihr alles machen!«
»Und er kann die steilen Wege hinauffahren?«
»Wären wir sonst hier? Steiler als bis zu euch kann's woanders auch nicht sein.«
Josef Lukacz kratzte sich den Kopf. In seine Augen trat eine gespannte Erwartung. »Warum ist der Herr denn hier?« fragte er und rückte näher.
»Weiß ich es?« Der Fahrer warf die Zigarette fort und erhob sich. »Vielleicht soll bei euch in der Nähe gebaut werden! Wir sind eine Baukolonne aus Zagreb.«
»Aus Zagreb.«, staunte Lukacz. Er umging den Wagen, betastete die eisernen Kanten, das Blech der Verkleidungen und die silbern blitzenden Stoßstangen. »So ein Wagen wäre etwas für unser Dorf«, sagte er sinnend. Dann ging er durch den Kreis der Neugierigen zurück und verschwand hinter einem Haus. Der Fahrer sah ihm nach und tippte an seine Stirn. Der Monteur lachte.