»Verrückt!« meinte er. »Die hätten den Motor in einer Stunde zu Bruch gefahren.«
Aus dem Hause trat Ralf Meerholdt. Marina trug ihm den Mantel und seine schwere Tasche nach, die ihr der Monteur abnahm. Stolz schritt Fedor neben Ralf zum Wagen und reichte ihm die Hand, als sie vor der Tür standen.
»Ich danke dir, Fedor Suhaja«, sagte Meerholdt. »Ich war sehr zufrieden mit deinem Haus.«
»Das freut mich, Herr. Vergiß uns nicht.«
Meerholdt sah den Alten erstaunt an. Vergiß uns nicht, durchfuhr es ihn. Sollte er wissen, daß ich Rosa küßte? Sollte er wachsamer gewesen sein, als ich glaubte?
»Ich werde wiederkommen«, sagte er vorsichtig.
»Das weiß ich, Herr.«
»Du weißt es? Woher?«
»Von Rosa, Herr. Sie ist ein braves Kind.«
Ein unbekanntes, unangenehmes Gefühl klomm in Ralf empor, das Gefühl von Angst und Schrecken und einer plötzlichen Feigheit.
»Sie hat dir erzählt.«, sagte er stockend.
Fedor nickte. »Sie hat gesagt, daß du wiederkommst.«
»Und was weiter?«
»Sonst nichts, Herr. Aber wir freuen uns, weil du Zabari noch einmal sehen willst.«
Aufatmend drückte Meerholdt Fedor die Hand. Dann stieg er in den Wagen und schloß mit festem Zug hinter sich die Tür. Der Monteur kletterte auf die Plattform und setzte sich neben den am Kran hängenden kleinen Wagen Ralfs, der Fahrer schob die Mütze in den Nacken und ließ den Motor an.
Er heulte auf, er durchrüttelte den ganzen Wagen, er füllte das Dorf mit unbekanntem, fremdem Lärm. Noch einmal hob Ralf grüßend die Hand, dann zog der Wagen an und ratterte über die steinige Dorfstraße dem Pfad entgegen, der Zabari wie durch einen dünnen Faden mit der übrigen Welt verband.
Am Ausgang des Dorfes, dort, wo der Wald die Felsen hinaufkletterte und der Pfad nach einer Biegung begann, sich die schwarzen Felsen hinaufzuschlängeln, stand allein vor einem niedergestürzten großen Stein Rosa und sah dem Wagen entgegen. Als er deutlich zu sehen war, winkte sie mit beiden Armen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen den Hals hinab. Sie wischte sie nicht ab ... sie winkte, und ihre langen Haare umflatterten das nasse Gesicht.
Meerholdt fuhr von seinem Sitz empor, als er Rosa am Wege stehen sah. Er faßte die Hand des Fahrers und drückte sie hart. »Anhalten!« rief er laut. Kreischend bremste der Wagen, er riß die Tür auf und sprang auf den Weg. Er wollte auf Rosa zugehen, aber sie wandte sich ab und rannte den Hang hinauf in den Wald. »Rosa!« schrie er. »Rosa! Bleib doch!« Er rannte ihr nach, aber sie war schneller, wie ein Reh sprang sie den Hang hinauf und hetzte den rettenden Bäumen entgegen. »Rosa!« schrie er noch einmal. »Warum läufst du denn fort? Rosa!!« Dann war sie zwischen den Stämmen untergetaucht, und sein Ruf zerflatterte zwischen den Felsen.
Langsam ging er zum Wagen zurück und kletterte auf den Sitz. Der Fahrer grinste ihn breit an.
»Will nichts wissen, was?« sagte er und schaltete den Motor wieder ein. »Ist ein süßes Vögelchen.«
»Fahren Sie und halten Sie das Maul!« schrie Meerholdt unbeherrscht. Der Fahrer stülpte die Unterlippe vor, duckte sich über das Steuer und lenkte den schweren Wagen über den schmalen Pfad. Vorsichtig fuhr er die Serpentinen hinauf und hinab, sich hart an den linken Felsen haltend.
Von einem Vorsprung aus beobachtete Jossip den Abzug der Kolonne. Tanja neben ihm schnupperte in der Luft und knurrte. Da beugte er sich nieder und strich ihm über den Rücken. »Ruhig, Tanja, ganz ruhig, Duscha ... nun sind wir wieder allein. Der Fremde ist fort und wird nicht wiederkommen. Nicht wahr, Tanja - ihn soll der Teufel holen.«
Der Hund knurrte. Das Brummen des Motors durchschnitt die Stille der Landschaft . im Blau des Himmels kreisten wieder die Adler, die weiße Kuppe des Durmitor glänzte in der Sonne. Alles war wie vor vier Tagen . nichts hatte sich geändert, so, wie es sich nicht geändert hatte in den hundert Jahren vorher und sich nicht ändern würde in den hundert Jahren nachher. Nur ein Herz war aufgebrochen in diesen Tagen, ein einsames, sehnsuchtsvolles, glutheißes Herz, und ein wildes Blut war aus dem Damm der Natur gesprungen und hatte die Seele überspült mit Lust und Begehren, mit heißen Träumen und stammelnden Wünschen. Doch wer wußte es? Wer sah in diesen Tälern auf ein Herz?
Fedor ging in den Wald und hackte Holz, Marina molk die Kühe und fütterte die Hühner, Rosa lief durch den Wald und weinte und schrie die Sonne an und breitete die Arme aus und rief: »Ich liebe ihn . ich liebe ihn.«
Doch niemand hörte sie, und es war gut so für den Frieden in Zabari.
Am Sonntag stieg Jossip hinab ins Tal nach Zabari. Er hatte sich den Schnurrbart abgenommen und sein nun glattes Gesicht nach der Art des >Herrn< gewaschen. Genau hatte er von seiner Felsenweide aus beobachtet, wie Meerholdt sich an dem Brunnen wusch und rasierte. Auch Jossip hatte nun sein störrisches Haar glatt gestrichen, und ohne seinen wilden Schnurrbart sah er weniger verwegen und so jung aus, wie er in Wahrheit war.
Er kam ins Tal, zwei fette Mutterlämmer hinter sich herziehend, vier edle Pelze über der Schulter und in weißen, eng anliegenden Hosen, umwickelt mit bunten Bändern. Von den Ärmeln seiner handgewebten Wolljacke hingen Troddeln herab, und die flache Mütze, die er auf dem krausen Haar trug, zierten breite, auf einem Teppichstuhl gewebte Bänder mit farbenprächtigen Mustern. Eine dicke Wollquaste fiel bis in den Nacken hinab und wippte beim Gehen lustig hin und her.
Vor dem Hause Suhajas band er die Lämmer an der Bank fest und trat dann ins Haus, hoch aufgerichtet, stolz, ein Sohn der schwarzen Berge mit dem Adel des freien Menschen.
Fedor und Marina saßen am Tisch und schnitten Speck, den sie für den Winter einsalzen wollten. Rosa stand am Herd und reihte Tabakblätter auf eine lange Schnur. Sie sollten unter dem Hausdach aufgehängt werden und dort trocknen. Als die Tür aufging, blickte sie kurz auf und beugte sich dann wieder gleichgültig über den Stapel Blätter. Fedor legte das lange Messer hin und wischte die fettigen Finger an der Hose ab.
»Jossip?« fragte er erstaunt. »Im Festkleid? Wo willst du hin?«
»Zu dir, Fedor.« Der Schäfer setzte sich an den Tisch und legte die vier Felle auf die Erde. »Es ist einsam in den Bergen«, sagte er langsam. »Zu einsam für einen jungen Mann.« Er sah kurz hinüber zu Rosa und fahr fort zu sprechen. »Ich habe mir eine Hütte gebaut. Fedor. Eine schöne, feste Hütte aus dicken Stämmen. Und einen Ofen habe ich gemauert, einen großen, warmen Ofen. Ich habe Felle genug und eine eigene Herde von 30 Schafen. Sie können mich ernähren, sie geben mir Milch und Butter und Käse und
Fleisch. Ich bin nicht arm, Fedor. Und doch bin ich arm, weil ich einsam bin. Das ist nicht gut, denn Jahr um Jahr vergeht, und die besten Jahre nahm die Einsamkeit.« Er stockte und beugte sich zu Fedor vor. »Ich möchte Rosa zu mir holen, Fedor.«
Am Herd war es still geworden. Das Rascheln der Blätter war verstummt. Rosa stand im Licht, das durch ein Fenster grell in den Raum fiel. Ihr schwarzes Haar glänzte wie Seide.
»Nein!« sagte sie laut. Nur nein, sonst nichts, aber Jossip zuckte unter diesem Wort zusammen und kniff die Augen etwas zu.
»Sie weiß nicht, was sie sagt, Fedor«, sagte er entschuldigend. »Sie weiß nicht, daß du sie mir und meinen Eltern schon in der Wiege versprochen hast. Wir haben einen Pakt, Fedor, nicht wahr ... es ist das Gesetz der Berge, daß ein Wort gilt bis zum Tod. Stimmt das, Fedor?«
»Ja, Jossip.«
»Du hast mir Rosa versprochen. Jetzt komme ich, sie zu holen. Es wird eine große, eine lustige Hochzeit werden. Ich werde zehn Schafe schlachten und drei Schweine. Am Spieß wollen wir sie braten, und 30 Kannen Wein werde ich verschenken. So reich bin ich, Fedor!«