Er verzog das Gesicht. Ich glaubte, Verärgerung daraus ablesen zu können, und das gefiel mir. Ich hatte ihn also anscheinend aufgebracht, und vielleicht würde er sich mir schließlich doch stellen. Die Gefahr reizte mich ungemein.
Er aber ließ die Waffen im Staub liegen und ging.
»Komm zurück!«, rief ich. Dann ein zweites Mal, noch lauter: »Komm zurück! Hast du etwa Angst vor mir?«
Er drehte den Kopf und zeigte wieder dieses seltsame, nur halb angedeutete Schmunzeln. »Nein, ich habe keine Angst.«
»Die solltest du aber haben.« Was wie ein Scherz gemeint war, klang durchaus ernst in der Stille, die über uns schwebte. Er kehrte mir den Rücken und ging weiter.
So nicht, dachte ich bei mir. Ich nahm Anlauf und warf mich ihm ins Kreuz.
Er stolperte, stürzte. Ich hielt an ihm fest und hörte ihn ächzen, als er auf dem Boden aufschlug, doch ehe ich ein Wort sagen konnte, hatte er sich unter mir weggedreht und mich bei den Handgelenken gepackt. Ich war mir nicht im Klaren darüber, wie ich mich wehren sollte, spürte aber seinen Widerstand, und dagegen konnte ich angehen. »Lass los!« Ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien.
»Nein.« Blitzschnell wälzte er mich auf den Rücken und stemmte mir die Knie in den Magen. Ich keuchte und war wütend, fühlte aber gleichzeitig eine seltsame Befriedigung.
»Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so kämpft wie du«, sagte ich. Geständnis oder Anklage oder beides.
»Du hast noch nicht viel gesehen.«
Trotz seines beschwichtigenden Tons bäumte ich mich unter ihm auf. »Du weißt, was ich meine.«
Seine Miene war unleserlich. Über uns raschelten leise die Blätter der Olivenbäume, deren Früchte noch nicht reif waren.
»Und, was meinst du?«
Ich wehrte mich mit aller Kraft, und er ließ von mir ab. Wir richteten uns auf. Unsere staubigen Kleider klebten am Rücken.
»Ich meine –« Ich spürte jene vertraute Mischung aus Wut und Neid wie Zunder in mir auflodern, doch die bitteren Worte verstummten, kaum dass ich sie gedacht hatte.
»Dich gibt es kein zweites Mal«, sagte ich schließlich.
Er musterte mich schweigend. »Und?«
Seine Stimme tilgte auch den Rest meiner Wut. Wer war ich, dass ich jemandem wie ihm missgönnen konnte, mir überlegen zu sein.
Er lächelte, als hätte er mich gehört, und sein Gesicht strahlte wie die Sonne.
Sechstes Kapitel
Danach waren wir unzertrennlich. Unsere Freundschaft kam so plötzlich wie die Frühlingsflut aus den Bergen. Vorher hatte ich mir wie die anderen Jungen vorgestellt, er würde als Prinz den ganzen Tag lang eingespannt sein, um als Herrscher und Kriegsführer ausgebildet zu werden. Doch es dauerte nicht lange, und ich erfuhr die Wahrheit. Er hatte nur seinen Leierunterricht und den Waffendrill zu absolvieren. Die restliche Zeit stand ihm und somit auch mir zur freien Verfügung. Mal gingen wir schwimmen, mal kletterten wir auf Bäume. Wir erfanden Spiele, rannten um die Wette und tummelten uns am Strand. »Rate, woran ich gerade denke«, sagte er, als wir im warmen Sand lagen.
An den Falken, der am Fenster vorbeiflog.
An den Jungen mit dem schiefen Zahn.
Ans Essen.
Und wenn wir im Meer schwammen, spielten oder miteinander redeten, beschlich mich immer wieder ein Gefühl. Es war fast wie Furcht, was da in mir aufstieg, oder wie Wehmut, weil es mich so plötzlich überkam, doch es war weder das eine noch das andere. Dieses Gefühl schien zu schweben, wenngleich es mich belastete, aufzuhellen, obwohl es düster stimmte. So etwas wie Zufriedenheit hatte ich durchaus schon erfahren, zumindest in kurzen Momenten, wenn ich mit mir allein war, Steine hüpfen ließ, würfelte oder in den Tag hineinträumte. Tatsächlich aber hatte ich sie meist nur als eine vorübergehende Erleichterung empfunden, dann, wenn mein Vater nicht in der Nähe war, wenn ich keinen Hunger hatte, weder müde war noch krank.
Dieses Gefühl war anders. Es kam vor, dass ich grinste, bis mir die Wangen wehtaten, und manchmal kribbelte mir die Kopfhaut, so dass ich glaubte, sie würde sich vom Schädel lösen. Meine Zunge stand nicht still und freute sich über ihre Freiheit. Ich erzählte ihm alles, was mir durch den Kopf ging, und musste nicht fürchten, zu viel zu sagen. Ich brauchte auch keine Angst zu haben, zu schwächlich oder zu langsam zu sein. Sogar darüber konnte ich mit ihm sprechen. Ich zeigte ihm, wie man Steine übers Wasser hüpfen ließ, und er brachte mir bei, Holzfiguren zu schnitzen. Ich spürte jeden Nerv in meinem Körper, jeden Lufthauch, der mich umwehte.
Er spielte auf der Leier meiner Mutter, und ich hörte zu. Wenn ich an der Reihe war, verirrten sich meine Finger in den Saiten, und der Lehrer verzweifelte an mir. Doch das kümmerte mich nicht weiter. »Spiel du wieder«, sagte ich. Und er spielte, bis es dunkel wurde und seine Hände fast nicht mehr zu sehen waren.
Mir wurde bewusst, wie sehr ich mich verändert hatte. Es machte mir nichts mehr aus, langsamer zu sein, wenn wir um die Wette liefen oder hinausschwammen zu den Felsen, oder wenn ich den Speer nicht so weit warf wie er und seine Steine weiter übers Wasser hüpften. Denn wer könnte sich schon dafür schämen, einer solchen Schönheit unterlegen zu sein? Ich freute mich, seine Fußsohlen durch den Staub wirbeln und ihn vor mir das Wasser durchpflügen zu sehen. Das reichte mir vollkommen.
Es war Spätsommer, und meine Verbannung währte schon über ein Jahr, als ich ihm endlich beichtete, wie ich den Jungen getötet hatte. Wir waren auf einen Ast der Eiche im Hof geklettert und saßen versteckt in den Blättern des Baumes. Dort oben mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, fiel es mir irgendwie leichter, darüber zu reden. Er hörte schweigend zu und fragte, als ich fertig war:
»Warum hast du dich nicht verteidigt und gesagt, dass es Notwehr war?«
Es war bezeichnend, dass er die Frage aufwarf, die mir bislang gar nicht in den Sinn gekommen war.
»Keine Ahnung.«
»Du hättest dich auch mit einer Lüge herausreden und behaupten können, dass er schon tot war, als du ihn aufgefunden hast.«
Ich starrte ihn an, verblüfft über diese simple Möglichkeit. Natürlich, ich hätte lügen können. Und dann kam mir der Gedanke: Wenn ich gelogen hätte, wäre ich noch ein Prinz. Es war nicht der Totschlag, der mich in die Verbannung getrieben hatte, sondern meine Einfallslosigkeit. Nun verstand ich auch den Abscheu, der aus den Augen meines Vaters gesprochen hatte. Ich, sein beschränkter Sohn, war ihm zuwider, weil ich geständig war. Ich erinnerte mich, wie er die Zähne zusammenbiss, als ich gesprochen hatte. Er verdient es nicht, König zu sein.
»Du hättest doch auch nicht gelogen.«
»Nein«, gab er zu.
»Und wie hättest du dich verhalten?«, fragte ich.
Achill griff nach einem Zweig, der über ihm hing. »Ich weiß nicht. Ich kann’s mir nicht vorstellen. Wie dieser Junge mit dir umgegangen ist …« Er zuckte mit den Achseln. »Mir hat noch niemand etwas wegzunehmen versucht.«
»Nie?« Ich konnte es kaum glauben. Ein Leben ohne solche Zumutungen erschien mir unmöglich.
»Nie.« Er dachte eine Weile nach und sagte: »Ich glaube, ich wäre an deiner Stelle auch in Wut geraten.« Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Grüne Eichenblätter umkränzten seinen Kopf wie eine Krone.
Ich sah König Peleus jetzt häufiger; wir wurden manchmal zu Beratungen und Festmahlen mit Fürsten eingeladen, die zu Gast waren. Ich durfte neben Achill am Tisch sitzen und sogar reden, wenn ich es wollte. Mir war es allerdings lieber zu schweigen und zu beobachten. Peleus nannte mich glaukos – Eule –, meiner großen Augen wegen. Er verstand sich gut auf solche Formen der Zuneigung, die allgemein blieben und zu nichts verpflichteten.
Wenn die Gäste gegangen waren, saßen wir am Feuer und hörten Geschichten seiner Jugend. Peleus, nunmehr ergraut und alt geworden, erzählte uns, wie er einmal an der Seite des Herakles gekämpft hatte. Als ich sagte, Philoktetes gesehen zu haben, lächelte er.