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Ich stupste ihn neckend mit den Zehen, worauf er mein Fußgelenk packte.

»Sie griffen an, und die Stadt Kalydon erlitt schreckliche Verluste.«

Achill zerrte so heftig an meinem Fuß, dass ich fast vom Stuhl gerutscht wäre, hätte ich mich nicht noch rechtzeitig an der Sitzfläche festgehalten.

»Daraufhin versammelte sich das Volk vor Meleager und bat ihn um Hilfe. Und – Achill, hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja, Vater.«

»Nein, das tust du nicht. Du triezt unseren armen Glaukos.«

Ich versuchte den Eindruck zu erwecken, als schmollte ich, und spürte die Kühle am Fußgelenk, auf dem einen Moment zuvor noch seine Hand gelegen hatte.

»Na schön, brechen wir an dieser Stelle ab. Ich bin müde geworden. Wir werden die Geschichte ein andermal fortsetzen.«

Wir standen auf und wünschten dem alten Mann eine gute Nacht. Als wir uns zum Gehen wandten, sagte er: »Achill, du solltest mal einen Blick auf das Mädchen aus der Küche werfen, das mit den blonden Haaren. Wie ich höre, lauert sie dir auf.«

Vielleicht lag es am Feuerschein, dass Achills Gesicht plötzlich so verändert aussah.

»Mal sehen, Vater. Jetzt bin ich zu müde.«

Peleus kicherte wie über einen Scherz. »Sie könnte dich bestimmt wieder munter machen.« Er verabschiedete uns mit einer kleinen Handbewegung.

Auf dem Weg zurück in unsere Kammer musste ich einen Schritt zulegen, um mitzuhalten. Wortlos wuschen wir unsere Gesichter. Ich verspürte einen Schmerz, der mir zusetzte wie Zahnweh.

»Dieses Mädchen – gefällt es dir?«

Er wandte sich mir zu. »Wieso? Hast du etwa ein Auge auf sie geworfen?«

»Nein, nein.« Ich errötete. »Darum geht’s nicht.« Ich fühlte mich wieder so verunsichert wie in den ersten Tagen. »Ich meine, wirst du –«

Er stürzte herbei, stieß mich auf mein Lager und beugte sich über mich. »Kein Wort mehr über sie, ich bin es leid«, sagte er.

Mir wurde ganz heiß. Seine Haare fielen auf mich herab, und ich roch nur ihn. Seine Lippen schienen nur einen Fingerbreit von meinen entfernt zu sein.

Und plötzlich, wie schon am Morgen, rückte er wieder von mir ab und kehrte auf seine Seite der Kammer zurück, wo er einen letzten Schluck Wasser trank. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.

»Gute Nacht«, sagte er.

In der Nacht beschleichen mich Bilder, Traumgespinste voller Zärtlichkeit, aus denen ich zitternd erwache. Aber die Vorstellungen bleiben und drängen sich auf, der Blick auf einen Nacken in flackerndem Feuerschein, die Wölbung einer Hüfte, glatte, kräftige Hände, die nach mir greifen. Ich kenne diese Hände, doch selbst hier, hinter meinen geschlossenen Lidern, kann ich nicht benennen, worauf ich hoffe. Bei Tag werde ich rastlos und zappelig, und wenn ich auch noch so viel laufe, singe und auf den Feldern umherziehe, lassen sich diese Bilder nicht zurückweisen. Sie kommen und nehmen kein Ende. 

Es ist Sommer, einer der ersten schönen Tage. Wir sind nach dem Mittagessen an den Strand gegangen und lehnen mit dem Rücken an einem Stück Treibholz. Die Sonne steht hoch am Himmel, und ein warmer Lufthauch zieht über uns hinweg. Achill rührt sich, und sein Fuß berührt meinen. Er ist kühl und ein wenig aufgeraut vom Sand, aber noch weich vom Winter, den wir hauptsächlich im Palast verbringen. Er summt etwas vor sich hin, ein Lied, das ich ihn schon auf der Leier habe spielen hören.

Ich betrachte ihn. Sein Gesicht ist glatt, ohne jene Unreinheiten und Flecken, unter denen die anderen Jungen zu leiden haben. An ihm ist nichts, was plump, unförmig oder aus dem Gleichgewicht geraten wäre. Im Gegenteil, seine Gesichtszüge sind wie mit fester, sicherer Hand modelliert.

Er bemerkt, dass ich ihn mustere. »Was ist?«, fragt er.

»Nichts.«

Ich kann ihn riechen, das Öl, mit dem er sich die Füße einreibt, den Duft von Granatapfel und Sandelholz, das Salz von frischem Schweiß und die Hyazinthen, durch die wir gegangen sind. Und ich nehme seinen unverkennbaren Geruch wahr, den, mit dem ich schlafen gehe und aufwache. Ich kann ihn nicht beschreiben. Er ist süß, aber nicht nur das, kräftig, aber nicht zu kräftig. Ein bisschen wie Mandeln, doch das trifft es nicht ganz. Manchmal, wenn wir miteinander gerungen haben, riecht auch meine Haut so.

Er stützt sich auf einer Hand ab. Die Muskeln im Arm wölben sich, wenn er sich bewegt. Seine grünen Augen ruhen auf mir.

Mein Herz macht einen Satz, ich weiß jedoch nicht so genau, warum. Er hat mich schon tausend Mal angesehen, aber jetzt liegt etwas anderes in seinem Blick, eine Intensität, von der ich bislang nichts wusste. Mein Mund ist trocken und ich kann mich schlucken hören.

Er beobachtet mich. Es scheint, als wartete er auf etwas.

Ich rücke auf ihn zu, ein winziges Stück nur, aber es ist wie der Sprung von einer Klippe. Ich weiß selbst nicht so recht, was ich tue, und beuge mich vor. Unsere Lippen treffen aufeinander, wie dicke Hummeln, weich und rund und schwer von Pollen. Ich schmecke seinen Mund, den süßen Honig, den es zum Nachtisch gab. Mein Inneres gerät in Aufruhr, und in meinem Körper regt sich ein warmes Wonnegefühl. Mehr.

Es schockiert mich, wie schnell und heftig mein Verlangen aufkeimt. Ich schrecke zurück und sehe seinen Mund noch geöffnet, halb zum Kuss geformt. Seine Augen sind vor Verwunderung weit geöffnet.

Entsetzen packt mich. Was habe ich getan? Mir bleibt keine Zeit, mich zu entschuldigen, denn er weicht zurück und steht auf. Seine Miene ist verschlossen, undurchdringlich und entfernt. Mir bleiben die Worte, die ich zur Erklärung vorbringen will, im Halse stecken. Er wendet sich ab und rennt über den Strand davon, der schnellste Junge der Welt.

Mir wird kalt ohne ihn an meiner Seite. Meine Haut fühlt sich an wie ein gespanntes Trommelfell. Mir brennt das Gesicht, und ich weiß, dass es rot ist.

Ich flehe die Götter an: Lasst ihn mich nicht hassen.

Wie töricht, dass ich mich ausgerechnet an sie wende.

Als ich in den Pfad einbog, der zum Garten führte, stand sie plötzlich vor mir, in aller Klarheit. Ein blaues Kleid, durchnässt, wie es schien, klebte auf ihrer Haut. Die schwarzen Augen waren auf mich gerichtet, und eine gespenstisch weiße Hand griff nach mir.

»Ich hab’s gesehen«, zischte sie, und es klang, als brächen Wellen am Fels.

Ich konnte nichts sagen. Sie hielt mich an der Kehle gepackt.

»Er wird gehen.« Ihre Augen waren jetzt schwarz wie nasse Steine. »Ich hätte ihn schon längst wegschicken sollen. Untersteh dich, ihm zu folgen.«

Ich bekam keine Luft mehr, hütete mich aber, Widerstand zu leisten. Es schien, als wollte sie mir noch etwas sagen, doch sie schwieg und ließ von mir ab. Wie eine Stoffpuppe sackte ich kraftlos zu Boden.

Der Wunsch einer Mutter. In unseren Ländern gab man darauf nicht viel, doch sie war eine Göttin.

Es war schon dunkel, als ich zurückkehrte. Achill saß auf dem Bett und starrte auf seine Füße. Er hob den Kopf, fast hoffnungsvoll, als ich zur Tür hereinkam. Ich sagte nichts. Der Anblick ihrer schwarzen Augen und seiner über den Sand fliegenden Fersen ließ mich nicht mehr los. Verzeih, es war ein Fehler. Das hätte ich vielleicht gesagt, wenn sie mir nicht durch den Kopf gegangen wäre.

Ich betrat die Kammer und setzte mich auf mein Bett. Er machte eine Bewegung und schaute mich an. Äußerlich sah er seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, jedenfalls nicht so, wie Kinder nach einem Elternteil geraten, was sich vielleicht an der Linie des Kinns oder an den Augen zeigte. Wohl aber war es die Art, wie er sich bewegte, und seine schimmernde Haut, die etwas Göttliches hatten und mich an sie erinnerten. Was hatte ich mir eigentlich gedacht?

Obwohl mehrere Schritte von ihm entfernt, konnte ich den Seegeruch an ihm wahrnehmen.