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»Ich muss morgen aufbrechen«, sagte er. Es klang fast wie ein Vorwurf.

»Oh«, sagte ich. Mehr bekam ich nicht heraus.

»Ich werde zu Cheiron gehen, um mich von ihm unterweisen zu lassen.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Er hat schon Herakles unterrichtet. Und Perseus.«

Noch nicht, hatte er zu mir gesagt. Aber seine Mutter wollte es anders.

Er stand auf und legte sein Kleid ab. Es war heiß, Hochsommer, und wir waren gewohnt, nackt zu schlafen. Das Licht beschien seinen glatten, muskulösen Bauch mit dem Flaum hellbrauner Haare, die nach unten hin dunkler wurden. Ich wendete meinen Blick ab.

Am nächsten Morgen stand er in der Dämmerung auf und zog sich an. Ich war wach, hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, tat aber so, als ob ich schliefe, und lugte heimlich durch die Wimpern. Ab und an warf er mir einen Blick zu. Im spärlichen Licht schimmerte seine Haut wie Marmor. Er warf seinen Reisesack über die Schulter und blieb noch einmal in der Tür stehen. Ich erinnere mich an diesen Moment, an seine Silhouette in dem steinernen Türbogen, die lose herabfallenden Haare, noch zerzaust vom Schlaf. Ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, war ich allein. 

Achtes Kapitel

Die zum Frühstück versammelten Jungen wussten bereits, dass er gegangen war. Sie tuschelten miteinander und beäugten mich, während ich mein Essen zu mir nahm. Ich kaute und schluckte, und das Brot lag mir wie ein Stein im Magen. Mich drängte es hinaus aus dem Palast an die frische Luft.

Ich ging in den Olivenhain. Der Boden unter meinen Füßen war ausgetrocknet. Ich fragte mich, ob die anderen Jungen jetzt, da er weg war, von mir erwarteten, dass ich mich ihnen anschließen würde, ob sie es überhaupt bemerkten, wenn ich es täte. Fast hoffte ich, sie würden es bemerken. Und mich verprügeln.

Ich konnte das Meer riechen. Es war überall, in meinen Haaren, in den Kleidern und auf der schweißnassen Haut. Selbst hier im Hain mit seinen Gerüchen von Laub und Erde suchte mich diese salzige Pest auf. Mir drehte sich der Magen um und ich lehnte mich an den schrundigen Stamm eines Baumes. Die raue Rinde stützte meinen Kopf. Du musst weg von diesem Gestank, dachte ich.

Ich ging nach Norden, zur Straße hin, einer staubigen Bahn, geebnet von Rädern und Hufen. Sie gabelte sich jenseits des Palasts. Die eine Abzweigung führte nach Südwesten über Weiden und sanft geschwungene Hügel. Von dort war ich vor drei Jahren gekommen. Der Weg auf der anderen Seite führte ins Othrys-Gebirge und auf den Pelion zu, jenen noch weiter im Norden aufragenden Gebirgszug. Ich folgte der Straße mit meinen Augen. Sie wand sich an den bewaldeten Ausläufern entlang und verschwand in der Ferne.

Die Sonne brannte glühend heiß vom Sommerhimmel herab, als wollte sie mich zurück in den Palast treiben. Doch ich blieb. Ich hatte von der Schönheit unserer Bergwelt gehört, von den Feigenkakteen und Zypressen, von den Bächen, die Schmelzwasser führten. Dort oben würde es kühl sein und schattig. Weit weg von den gleißenden Stränden und funkelnden Wellen.

Ich könnte fortgehen. Der Einfall kam plötzlich und überraschend. Ich war zur Straße gegangen, um mich vom Meer zu entfernen. Doch nun, da ich sie erreicht hatte, lagen die Berge vor mir. Und Achill. Mein Atem ging in kurzen Stößen, als versuchte er, mit meinen Gedanken Schritt zu halten. Es gab nichts, was ich zurücklassen würde, denn ich besaß nichts. Selbst der Leibrock und die Sandalen gehörten Peleus. Ich brauche nicht einmal zu packen.

Nur eines hielt mich noch zurück, es war die Leier meiner Mutter, die im Holzkasten der Musikkammer lag. Ich zögerte einen Moment, dachte, dass ich sie holen und mitnehmen könnte. Aber es war bereits Mittag. Mir blieb nur der Nachmittag zur Flucht. Am Abend, dachte ich, würde man mein Fehlen bemerken und nach mir schicken. Ich schaute zum Palast zurück und konnte niemanden sehen. Die Wachen waren woanders. Jetzt oder nie, dachte ich.

Ich rannte los. Weg von dem Palast, die Straße hinunter auf den Wald zu, auf dem heißen Sandboden, der mir die Sohlen verbrannte. Ich rannte und gelobte, dass, wenn ich ihn je wieder sähe, meine Gedanken vor ihm verschließen würde. Ich wusste nun um den Preis, den es kostete, wenn ich es nicht täte. Die Beine fingen zu schmerzen an, und dass mir ein Stechen durch die Brust ging, war mir willkommen. Ich rannte.

Der Schweiß floss in Strömen und tropfte mir vom Kinn. Ich war bald über und über von Schmutz und Staub bedeckt, Laub klebte an meinen Beinen. Alles, was ich von der Welt um mich herum wahrnahm, waren einzig meine stampfenden Füße und die nächsten staubigen Schritte auf meinem Weg.

Schließlich – nach einer Stunde? Oder waren es zwei? – musste ich anhalten. Keuchend beugte ich mich vornüber. Mir wurde schwarz vor Augen, und das Blut rauschte in den Ohren. Ich war im Wald, die Straße von dichtem Gestrüpp gesäumt, und Peleus’ Palast lag weit hinter mir. Rechts erhoben sich die Othrys-Berge, dahinter die Gipfelgrate des Pelion. Ich versuchte die Entfernung zu schätzen. Zehntausend Schritte? Fünfzehntausend? Im Schritttempo setzte ich meinen Weg fort.

Stunden vergingen. Mir schwanden die Kräfte, die Füße schmerzten, und die Sonne senkte sich herab. In vier oder fünf Stunden würde es dunkel sein. Ich konnte mir ausrechnen, dass der Pelion vor Nachtanbruch nicht zu erreichen war. Ich hatte nichts zu essen, kein Trinkwasser und auch keine Hoffnung, irgendwo Unterschlupf zu finden. Ich hatte nichts als meine Sandalen an den Füßen und die von Schweiß durchnässte Tunika.

Ich würde Achill nicht einholen können, so viel stand fest. Er hatte längst die Straße verlassen und war jetzt ohne Pferd auf den steilen Hängen zu Fuß unterwegs. Ein guter Fährtenleser würde an Abdrücken oder geknickten Pflanzen erkennen können, welchen Weg er eingeschlagen hatte. Doch darauf verstand ich mich nicht. Ich entdeckte nirgends Spuren, denen ich hätte folgen können. Meine Ohren summten vom Zirpen der Zikaden, schrillen Vogelrufen und meinem eigenen Keuchen. Plötzlich überkamen mich Hunger und Verzweiflung.

Und dann gab es da noch etwas, einen Laut, kaum vernehmlich. Aber ich nahm ihn wahr, und er ließ mir trotz der Hitze das Blut in den Adern gefrieren. Ich kannte dieses Geräusch. Es war eines von heimlicher Bewegung, die lautlos zu sein versuchte, ein gelegentliches Rascheln, ein falsch gesetzter Tritt.

Ich lauschte bang. Wo kam es her? Ich schaute mich nach allen Seiten um und rührte mich nicht vom Fleck. Im Laufschritt unterwegs hatte ich nicht an Gefahr gedacht, doch jetzt malte ich sie mir aus: Soldaten, von Peleus oder womöglich sogar von Thetis geschickt, weiße, kalte Hände, die sich mir um den Hals legten. Oder Wegelagerer. Mir war bekannt, dass sie an den Straßen lauerten, und ich erinnerte mich an Geschichten über junge Männer, die geraubt und gequält worden waren. Ich hielt die Luft an und stand still, um mich nicht zu verraten. Mein Blick fiel auf ein Büschel blühender Schafgarbe, in dem ich mich würde verstecken können. Jetzt. Los.

Ich bemerkte, wie sich etwas zu meiner Linken im Wald bewegte, und fuhr mit dem Kopf herum. Zu spät. Etwas – jemand – schlug von hinten zu und stieß mich nach vorn. Ich stürzte der Länge nach zu Boden mit dem Angreifer im Nacken und erwartete mit geschlossenen Augen den Stich einer Klinge.

Doch der blieb aus. Stille ringsum. Ich spürte Knie im Rücken, so platziert, dass sie nicht wehtaten.

»Patroklos.« Pa-tro-klos.

Ich rührte mich nicht.

Der Druck der Knie ließ nach. Hände wälzten mich behutsam herum. Achill blickte auf mich herab.

»Ich hatte gehofft, dass du mir folgst«, sagte er. Meine Nerven flatterten vor Erleichterung und die Anspannung löste sich. Ich sog seinen Anblick in mich auf, sein helles Haar, seine geschwungenen Lippen. Meine Freude war so groß, dass ich nicht zu atmen wagte. Was hätte ich sagen können? Tut mir leid, vielleicht. Oder irgendetwas anderes. Ich öffnete den Mund.