Mit neu gewonnenem Mut zeigte ich auf die bronzenen Gegenstände an der Wand und fragte: »Was sind das für Sachen?«
Cheiron hatte sich vor uns auf dem Boden niedergelassen. »Chirurgische Instrumente«, antwortete er.
»Chirurgische?« Das Wort war mir fremd.
»Zur Heilung. Ich vergaß, dass ihr, die ihr aus dem Tiefland kommt, Barbaren seid.« Seine Stimme klang nüchtern und sachlich. »Manchmal muss ein kranker Körperteil abgetrennt werden, damit der Rest gesunden kann. Diese Geräte da sind zum Schneiden, jene zum Vernähen von Wunden.« Er bemerkte, dass ich mit ungläubigem Staunen auf das Sägeblatt mit den scharfen Zacken starrte.
»Würdest du gern lernen, wie man heilt?«
Ich errötete. »Davon habe ich keine Ahnung.«
»Du antwortest auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt habe.«
»Tut mir leid, Meister Cheiron.« Ich wollte ihn nicht verärgern. Er wird mich sonst zurückschicken.
»Das muss dir nicht leidtun. Antworte einfach.«
»Ja, gern«, stammelte ich. »Die Heilkunde ist nützlich, nicht wahr?«
»Sehr nützlich«, bestätigte er und wandte sich an Achill, der bislang nichts gesagt hatte.
»Und was meinst du, Pelides? Hältst du die Medizin ebenfalls für nützlich?«
»Natürlich«, antwortete Achill. »Bitte, nenn mich nicht Pelides. Ich bin Achill.«
In den dunklen Augen des Pferdemenschen zeigte sich etwas, das als Zeichen der Belustigung hätte gedeutet werden können.
»Also gut. Hast du eine Frage zu den Dingen, die du hier siehst?«
»Ja.« Achill zeigte auf die Musikinstrumente, die Leiern, Flöten und die siebensaitige Kithara. »Kannst du darauf spielen?«
»Allerdings«, antwortete Cheiron.
»Ich auch«, sagte Achill. Und dann: »Ich habe gehört, du hast Herakles und Theseus unterrichtet. Stimmt das?«
»So ist es.«
Ich konnte es kaum fassen. Er kannte diese beiden Helden persönlich, von Kindesbeinen an.
»Ich würde mich freuen, von dir zu lernen.«
Cheirons strenge Miene löste sich ein wenig. »Darum bist du zu mir geschickt worden. Damit ich dir beibringen kann, was ich weiß.«
Im Licht der Abendsonne führte uns Cheiron durch das Gelände nahe der Höhle. Er zeigte uns, wo die Berglöwen ihren Bau hatten, und wo der Fluss war, der gemächlich dahinplätscherte und klares, von der Sonne erwärmtes Wasser führte.
»Du könntest ein Bad nehmen, wenn du willst.« Er schaute mich an. Ich hatte vergessen, wie schmutzig ich war, fuhr mit der Hand durch die Haare und wühlte den Staub darin auf.
»Ich will«, sagte Achill, und schon hatte er seine Tunika abgestreift. Ich folgte ihm. In der Tiefe war das Wasser kalt, aber nicht unangenehm. Cheiron belehrte uns vom Ufer aus: »Das da sind Schmerlen. Seht ihr sie? Und hier, ein Barsch. Dort drüben schwimmen Zährten. Die gibt’s nur hier. Man erkennt sie an den silbernen Bäuchen und dem Wulst, der wie eine Nase aussieht.«
Seine Stimme mischte sich mit dem Rauschen des Wassers und linderte, was es an Spannungen zwischen Achill und mir noch gegeben haben mochte. Cheirons ruhige, gutmütige und zugleich bestimmende Art machte uns wieder zu Kindern, die nur diesen Augenblick im Sinn hatten und sich um nichts weiter kümmerten. In seiner Nähe war fast vergessen, was sich am Strand zugetragen hatte. Ja, wir kamen uns sogar wieder klein und schmächtig vor neben seiner mächtigen Gestalt. Wer hatte uns bloß eingeredet, dass wir erwachsen wären?
Erfrischt und gereinigt stiegen wir aus dem Wasser und schüttelten im letzten Licht der Sonne unsere nassen Haare. Ich kauerte mich ans Ufer und schrubbte mit Kieselsteinen den Schmutz aus meiner Tunika. Bis sie wieder trocken sein würde, war ich nackt, aber Cheirons Einfluss reichte so weit, dass nicht einmal das etwas ausmachte.
Die ausgewrungenen Kleider über die Schulter geworfen, folgten wir ihm zurück in die Höhle. Manchmal blieb er stehen und machte uns auf die Spuren von Hasen, Wiesenrallen und Hirschen aufmerksam. Er sagte, wir würden zu gegebener Zeit Jagd auf sie machen, und brachte uns bei, ihre Fährten zu lesen. Wir hörten ihm zu und stellten eifrig Fragen. Im Palast hatte es nur diesen mürrischen Musiklehrer gegeben oder Peleus persönlich, der über seine eigenen Worte fast einschlief. Wir wussten nichts über das Leben im Wald oder von all den anderen Dingen, von denen uns Cheiron berichtete. Ich dachte an die Gegenstände an der Höhlenwand, an die Heilkräuter und Werkzeuge. Chirurgische Instrumente hatte er sie genannt.
Es war fast dunkel, als wir die Höhle erreichten. Cheiron betraute uns mit kleinen Aufgaben. Wir sollten Holz sammeln und in der Lichtung vor dem Eingang zur Höhle ein Feuer machen. Als es brannte, setzten wir uns vor die Flammen und genossen ihre Wärme in der kühler werdenden Luft. Wir waren müde und erschöpft nach den Anstrengungen des Tages, und unsere Füße und Beine prickelten angenehm. Wir schmiedeten Pläne für den nächsten Tag, waren aber so mundfaul wie zufrieden und machten nicht viel Worte. Zum Abendessen gab es erneut von dem Eintopf und ein dünnes Fladenbrot, das Cheiron auf einem Bronzeblech über dem Feuer gebacken hatte. Zum Nachtisch reichte er uns Beeren mit Honig.
Das Feuer verglomm. Schon halb träumend, konnte ich die Augen kaum mehr offen halten. Mir war wohlig warm, der Boden, auf dem ich saß, war weich von Moos und welkem Laub. Ich konnte kaum glauben, noch am Morgen in Peleus’ Palast aufgewacht zu sein. Die kleine Lichtung und die schimmernden Wände der Höhle wirkten lebendiger auf mich als die bleichen weißen Mauern des Palasts.
Cheirons Stimme schreckte mich aus meinem Dämmerzustand auf. »Achill, deine Mutter hat mir eine Botschaft zukommen lassen.«
Ich bemerkte, dass sich Achills Körper versteifte, und mir selbst schnürte sich plötzlich die Kehle zu.
»Oh, und was sagt sie?«, fragte er betont gleichmütig.
»Sie sagt, falls dir der verbannte Sohn des Menoitios gefolgt sein sollte, sei er von dir fernzuhalten.«
Wieder hellwach, richtete ich mich auf.
Achill fragte scheinbar sorglos: »Hat sie auch gesagt, warum?«
»Nein.«
Ich schloss die Augen. Dass es mir erspart blieb, vor Cheiron gedemütigt zu werden, indem der Vorfall am Strand zur Sprache gekommen wäre, erleichterte mich ein wenig. Doch ein Trost war es nicht.
»Du weißt ja wohl, wie sie zu dieser Sache steht«, fuhr Cheiron fort. »Und ich möchte nicht hintergangen werden.«
Mein Gesicht glühte. Zum Glück war es dunkel. Die Stimme des Zentauren klang härter als zuvor.
Meine Kehle war so trocken, dass ich mich räuspern musste, um etwas sagen zu können. »Tut mir leid«, hörte ich mich sprechen. »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Achill kann nichts dafür. Er wusste nicht, dass ich ihm folgen würde. Mir schien –« Ich stockte und musste einen neuen Anlauf nehmen. »Ich hatte gehofft, sie würde es nicht bemerken.«
»Das war dumm von dir.« Auf Cheirons Gesicht lag ein Schatten.
»Cheiron –«, hob Achill mutig an.
Der Zentaur winkte mit der Hand ab. »Die Botschaft erreichte mich schon am Morgen, ehe ihr gekommen seid. Ihr habt mich also in eurer Torheit gar nicht erst täuschen können.«
»Du wusstest Bescheid?« Es war Achill, der fragte. Ich hätte es nicht gewagt. »Dann hast du dich also schon entschieden? Du wirst nicht tun, was sie verlangt?«
Cheirons Stimme ließ eine Warnung mitschwingen. »Sie ist eine Göttin, Achill, und nicht zuletzt deine Mutter. Gelten dir ihre Wünsche so wenig?«
»Ich halte sie in Ehren, Cheiron. Aber in dieser Sache liegt sie falsch.« Er hatte die Fäuste so fest geballt, dass ich trotz der Dunkelheit die angespannten Sehnen auf dem Handrücken sehen konnte.
»Und warum liegt sie falsch, Pelides?«
Ich schaute ihn an, und mein Magen krampfte sich zusammen. Was würde er wohl antworten?
»Sie meint –« Er stockte, und ich hielt den Atem an. »Dass er als Sterblicher nicht der richtige Umgang für mich ist.«