Schnell verging die Zeit im Idyll am Fuß des Berges. Es wurde nachts nun kühl, und nur zögernd erwärmte sich die Luft bei Tag, wenn das fahle Sonnenlicht durch die trockenen Blätter fiel. Cheiron gab uns Felle, in die wir uns kleideten. Vor den Eingang zur Höhle wurden Tierhäute zum Schutz gegen die Kälte gehängt. Wir legten Holzvorräte an und pökelten Fleisch für den Winter. Noch hatten sich die Tiere nicht in ihre Bauten zurückgezogen, doch sie würden es bald tun, sagte Cheiron. Morgens bestaunten wir den Raureif, der die Blätter umkränzte. Aus Liedern und Geschichten wussten wir vom Schnee, hatten ihn aber noch nie gesehen.
Eines Morgens wachte ich auf und suchte nach Cheiron, konnte ihn aber nirgends finden. Er stand meist vor uns auf, um die Ziegen zu melken oder Früchte fürs Frühstück zu sammeln. Ich verließ die Höhle, damit Achill weiterschlafen konnte, setzte mich auf die Lichtung und wartete. Vom Feuer der vergangenen Nacht war nur weiße Asche übrig geblieben. Ich stocherte darin herum und lauschte den Geräuschen des Waldes. Eine Wachtel schlug, eine Taube gurrte. Ich hörte es im Unterholz rascheln, vom Wind vielleicht oder irgendeinem Tier.
Plötzlich begann meine Haut zu kribbeln und mir wurde bange, als zuerst die Wachtel, dann die Taube verstummte. Kein Blättchen rührte sich, denn auch der Wind hatte sich gelegt, und nichts raschelte mehr. Es war so still, dass ich unwillkürlich die Luft anhielt. Wie ein Kaninchen im Schatten eines Falkens. Ich spürte das Herz in der Brust schlagen.
Von Cheiron wusste ich, dass er manchmal zauberte, mit seinen magischen Kräften Wasser warm werden ließ oder Tiere beruhigte.
»Cheiron?«, rief ich verstört und mit dünner Stimme. »Cheiron?«
»Der bin ich nicht.«
Ich fuhr herum. Am Rand der Lichtung stand Thetis, kreideweiß im Gesicht und mit wallenden schwarzen Haaren. Das Kleid, das sie trug, schillerte wie Fischschuppen. Mir stockte der Atem.
»Du solltest nicht hier sein.« Aus ihrem Mund klangen die Worte wie das Kratzen von schroffen Felsen am Rumpf eines Bootes.
Als sie auf mich zukam, schien das Gras unter ihren Füßen zu verdorren. Sie war eine Nymphe und hielt alles, was auf der Erde lebte, für widerwärtig.
»Tut mir leid«, presste ich aus trockener Kehle hervor.
»Ich habe dich gewarnt.« Sie schien mich mit ihren schwarzen Augen zu durchbohren. Ich wollte schreien, wagte es aber nicht.
Plötzlich meldete sich hinter mir Cheirons Stimme, laut und doch ruhig. »Ich grüße dich, Thetis.«
Ein warmer Schwall fuhr mir durch die Glieder, und ich konnte wieder atmen. Fast wäre ich zu ihm gerannt, doch ihr ungerührter Blick hielt mich gebannt. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie schneller war als ich.
»Du jagst dem Jungen Angst ein«, sagte Cheiron.
»Er gehört nicht hierher«, entgegnete sie. Ihre Lippen waren rot wie frisches Blut.
Cheiron legte mir eine Hand auf die Schulter. »Patroklos«, sagte er, »geh jetzt in die Höhle zurück. Wir werden später miteinander reden.«
Ich gehorchte, stand auf und ging.
»Du lebst schon zu lange mit Sterblichen zusammen, Zentaur«, hörte ich sie sagen, ehe sich die Tierhäute im Eingang hinter mir schlossen. Verstört lehnte ich mich mit dem Rücken an die Höhlenwand. Mir lag ein brackiger Geschmack auf der Zunge.
»Achill«, sagte ich.
Er öffnete die Augen und eilte auf mich zu, bevor ich dazu kam, ein weiteres Wort zu sprechen.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Deine Mutter ist hier«, sagte ich.
Er fuhr vor Schreck zusammen.
»Hat sie dir wehgetan?«
Ich schüttelte den Kopf. Dass sie mir, wie ich glaubte, wohl Gewalt angetan hätte, wenn Cheiron nicht dazwischengegangen wäre, verschwieg ich.
»Ich geh zu ihr«, sagte er. Die Tierhäute schlugen dumpf aneinander, als sie sich vor ihm teilten und dann wieder zurückfielen.
Ich konnte nicht hören, was draußen auf der Lichtung gesagt wurde. Sie sprachen leise oder waren vielleicht auch woanders hingegangen, um miteinander zu reden. Ich wartete und ging im Kreis. Um mich selbst machte ich mir keine Sorgen. Cheiron wollte, dass ich blieb, und er war älter als sie, älter als die meisten Götter. Er war schon erwachsen gewesen, als Thetis noch als Ei im Schoß des Meeres geruht hatte. Aber es gab da etwas anderes, das nicht so leicht zu benennen war. Mir schwante, dass ihr Besuch nichts Gutes verhieß.
Es war schon fast Mittag, als sie zurückkehrten. Sofort richtete ich meinen Blick auf Achills Gesicht und versuchte, seine Miene zu deuten. Doch er ließ sich nichts anmerken, allenfalls ein wenig Müdigkeit. Er warf sich auf unser Lager und sagte: »Ich habe Hunger.«
»Kein Wunder«, erwiderte Cheiron. »Es ist schon Mittagszeit, und du hast nicht einmal gefrühstückt.« Er bereitete eine Mahlzeit für uns zu und verblüffte mich wieder damit, dass er sich trotz seiner Größe auf engstem Raum behände zu bewegen vermochte.
Achill wandte sich mir zu. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Sie wollte nur mit mir reden. Mich sehen.«
»Sie wird wiederkommen«, ließ Cheiron von sich hören, und als wüsste er, was ich dachte, fügte er hinzu: »Das darf man von ihr erwarten. Schließlich ist sie seine Mutter.«
Mehr als alles andere ist sie eine Göttin, dachte ich.
Als wir aßen, zerstreuten sich meine Sorgen. Ich hatte befürchtet, Cheiron könnte von dem Tag am Strand erfahren haben, aber er verhielt sich uns beiden gegenüber nicht anders als sonst, und auch Achill war so wie immer. Ich ging zu Bett, zwar nicht im Frieden mit der Welt, aber immerhin beruhigt.
Nach diesem Tag kam sie häufiger, wie von Cheiron vorhergesagt. Ich lernte, die Zeichen ihrer Ankunft zu deuten – erkannte die Totenstille, bevor sie erschien. Dann hielt ich mich jedes Mal in Cheirons Nähe auf und blieb in der Höhle. Ihre Besuche waren für mich nicht weiter von Belang, und ich redete mir ein, dass ich ihr gönnte, ihren Sohn zu sehen. Trotzdem war ich immer froh, wenn sie wieder ging.
Es wurde Winter, und der Fluss gefror. Achill und ich wagten uns aufs Eis hinaus, in das wir später Löcher schlugen, um zu fischen. Es war unser einziges Fleisch, denn im Wald gab es nur noch Mäuse und manchmal den einen oder anderen Marder.
Es begann zu schneien, wie Cheiron vorausgesagt hatte. Wir lagen auf dem Boden, ließen die Flocken auf uns herabrieseln und behauchten sie mit unserem Atem, bis sie geschmolzen waren. Wir hatten weder Stiefel noch Mäntel, nur die Felle, die uns Cheiron gegeben hatte, und waren froh, uns in die warme Höhle zurückziehen zu können. Sogar Cheiron trug jetzt ein Hemd, genäht aus dem Fell eines Bären, wie er sagte.
Nach dem ersten Schneefall zählten wir die Tage und markierten sie mit Strichen auf einem Stein. »Wenn ihr die Fünfzig erreicht«, sagte Cheiron, »wird das Eis auf dem Fluss brechen.« Am Morgen des fünfzigsten Tages hörten wir ein seltsames Geräusch. Es war, als stürzten Bäume. Die Eisdecke auf dem Fluss zeigte nahe dem Ufer erste Risse. »Bald ist Frühling«, sagte Cheiron.
Nicht lange danach fing das Gras wieder zu wachsen an, und die Eichhörnchen kamen aus ihren Kobeln hervor, abgemagert und hungrig. Wir taten es ihnen gleich und aßen unser Frühstück in der frischen Frühlingsluft. Eines Morgens fragte Achill den Zentaur, ob er uns zu kämpfen beibringen würde.
Ich wunderte mich, warum er ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen kam. Weil er sich nach dem langen Winter endlich wieder austoben wollte? Oder hatte es mit seiner Mutter zu tun, die kürzlich wieder zu Besuch gewesen war?
Wirst du uns zu kämpfen beibringen?
Cheiron ließ sich mit der Antwort Zeit. Ich glaubte fast, mir die Frage nur eingebildet zu haben. »Wenn ihr wollt«, sagte er schließlich.
Er holte für uns beide je einen Speer und ein Übungsschwert aus einer Ecke der Höhle hervor, führte uns zu einer Lichtung weiter oben auf dem Berg und forderte uns auf, ihm zu zeigen, was wir bislang gelernt hatten. Ich führte ein paar halbherzige Paraden und Hiebe vor, während Achill neben mir sein ganzes Können unter Beweis stellte. Mit einem bronzeverstärkten Stab fuhr Cheiron gelegentlich dazwischen, um zu sehen, wie wir reagierten.