Schon erhoben sich mehrere Männer von den Bänken. Peleus gebot ihnen mit einer Handbewegung Einhalt.
»Was noch zu sagen wäre …« Er hielt ein Pergament voller Schriftzeichen in die Höhe. »Vor ihrer Vermählung mit König Menelaos hatte Helena viele Bewerber. Es scheint, dass sie alle demjenigen einen Eid schwören mussten, der ihre Hand gewinnen sollte. Agamemnon und Menelaos fordern nun diese Männer auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen und dem rechtmäßigen Gatten die Frau zurückzuführen.« Er reichte einem Herold das Pergament.
Ich traute meinen Ohren nicht. Der Eid. Im Geiste sah ich Bilder von einem Kohlebecken und das vergossene Blut einer weißen Ziege, eine Halle voll vornehmer Gestalten.
Der Herold hob das Pergament vor sein Gesicht. Mein Blick verschwamm, als er zu lesen begann.
Antenor.
Eurypylos.
Machaon.
Ich kannte diese Namen wie alle im Raum. Aber für mich waren es nicht nur Namen. Ich hatte alle, die sie trugen, mit eigenen Augen gesehen, damals in der rauchgeschwängerten Halle.
Agamemnon. Ich erinnerte mich an jenen grüblerischen Mann mit dichtem schwarzem Bart und eng zusammenstehenden, aufmerksamen Augen.
Odysseus. Der mit der langen, zahnfleischfarbenen Narbe an der Wade.
Ajax. Der fast doppelt so groß war wie alle anderen und einen riesigen Schild mit sich geführt hatte, der von zwei Sklaven gehalten worden war.
Philoktetes, der Bogenschütze.
Menoitiades.
Der Herold legte eine Pause ein, ich hörte viele fragen: Wer? Mein Vater hatte sich in den Jahren meiner Verbannung mit keiner Leistung hervorgetan; sein Ruhm war verblasst, sein Name vergessen. Und wer ihn kannte, wusste nichts von einem Sohn. Ich saß stocksteif auf meinem Stuhl und wagte es nicht, mich zu rühren. Ich bin an diesen Krieg gebunden.
Der Herold räusperte sich.
Idomeneus.
Diomedes.
»Du warst da? Einer der Bewerber?«, flüsterte Achill kaum vernehmlich, doch ich fürchtete, dass ihn alle hören konnten.
Ich nickte. Meine Kehle war so trocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich hatte nur um Achill gefürchtet und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich ihn würde zurückhalten können. Dass es dabei auch um mich ging, war mir nicht in den Sinn gekommen.
»Hör zu. Du trägst längst einen anderen Namen. Sag nichts. Wir müssen uns mit Cheiron beraten und überlegen, was zu tun ist.« So hastig hatte ich Achill noch nie sprechen hören. Sein Drängen brachte mich wieder zur Besinnung, und sein Blick flößte mir Mut ein. Ich nickte wieder.
Weitere Namen wurden vorgelesen. Ich erinnerte mich an die drei verhüllten Frauen auf dem Podest, von denen eine Helena gewesen war, an die vielen aufgehäuften Geschenke, die gefurchte Stirn meines Vaters, meinen Kniefall auf steinernem Boden. Was ich lange Zeit für einen Traum gehalten hatte, war Wirklichkeit gewesen.
Als der Herold das Pergament wieder einrollte, kam Unruhe auf. Bänke kratzten über den Boden, und Männer eilten zu Phoinix, um sich zum Kampf zu melden. Peleus wandte sich an uns. »Kommt. Ich möchte mit euch reden.« Ich richtete meinen Blick auf Thetis’ Platz, um zu sehen, ob sie mit uns kommen würde, doch sie war verschwunden.
Wir setzten uns zu Peleus an die offene Feuerstelle. Er bot uns Wein an, verdünnt mit einem Schluck Wasser. Achill lehnte ab. Ich nahm einen Becher entgegen, trank aber nicht. Der König saß auf seinem alten, mit Kissen gepolsterten Stuhl nahe am Feuer. Seine Augen ruhten auf Achill.
»Ich habe dich zurückrufen lassen, weil ich mir dachte, dass du unser Heer vielleicht anführen möchtest.«
Nun war es gesagt. Das Feuer knackte, die Holzscheite waren noch frisch.
Achill begegnete dem Blick seines Vaters. »Meine Ausbildung bei Cheiron ist noch nicht beendet.«
»Du warst länger am Pelion als ich, länger als jeder andere Held vor dir.«
»Das bedeutet nicht, dass ich loseilen muss, um den Atriden beizustehen, wenn ihnen ihre Frauen abhandenkommen.«
Ich dachte, Peleus würde über diese Antwort schmunzeln, aber das tat er nicht. »Menelaos wird gewiss rasen vor Wut, weil ihm die Frau genommen wurde, aber nicht er, sondern Agamemnon sandte den Boten. Er hat Troja über all die Jahre wachsen und gedeihen sehen und will nun die Früchte ernten. Die Eroberung der Stadt wird ein Fest für unsere tapfersten Helden sein, eine große Gelegenheit, Ruhm und Ehre zu erringen.«
Achill kniff die Brauen zusammen. »Es wird andere Gelegenheiten geben.«
Peleus ließ zwar nicht erkennen, dass er seinem Sohn zustimmte, aber ich ahnte, dass er es im Herzen tat. »Und was ist mit Patroklos? Er wurde zur Pflicht gerufen.«
»Er ist nicht mehr der Sohn des Menoitios, geschweige denn an einen Eid gebunden.«
Peleus krauste die Stirn. »Willst du die Entscheidung nicht Patroklos überlassen?«
»Er wurde in dem Augenblick von seinem Eid gelöst, als der Vater ihn enterbte«, sagte Achill mit trotzig erhobenem Kinn.
»Ich will nicht in den Krieg ziehen«, murmelte ich leise.
Peleus betrachtete uns einen Moment lang und sagte dann: »Ich habe in dieser Sache nicht zu entscheiden. Das überlasse ich euch.«
Ich fühlte mich ein wenig erleichtert. Der König würde mich nicht bloßstellen.
»Achill, Männer werden kommen, um mit dir zu sprechen, Fürsten, von Agamemnon geschickt.«
Draußen hörte ich das gleichmäßige Rauschen der Brandung. Ich konnte das Salz des Meeres riechen.
»Sie werden mich bitten zu kämpfen«, sagte Achill. Eine Frage war das nicht.
»Ja, das werden sie.«
»Willst du, dass ich sie anhöre?«
»Das will ich.«
Es wurde wieder still. Dann sagte Achilclass="underline" »Ich möchte weder dich noch sie vor den Kopf stoßen und werde mir anhören, welche Gründe sie vorzutragen haben. Ich glaube allerdings nicht, dass sie mich überzeugen können.«
Peleus war sichtlich überrascht von den selbstsicheren Worten seines Sohnes, nicht unangenehm überrascht, wie es schien. »Auch darüber will ich nicht befinden«, entgegnete er mild.
Wieder krachte eins der brennenden Holzscheite und Funken stoben empor.
Achill kniete nieder, worauf Peleus ihm eine Hand auf den Kopf legte. Ich kannte diese Geste von Cheiron. Im Vergleich zu dessen Hand wirkte die von Peleus alt und welk. Ich konnte mir manchmal kaum vorstellen, dass er früher ein großer Krieger gewesen war und mit Göttern verkehrte.
Achills Schlafkammer hatte sich seit unserer Abreise nicht verändert, abgesehen von meinem Lager, das in unserer Abwesenheit entfernt worden war. Ich war froh darüber, denn falls man uns fragen sollte, warum wir in einem Bett schliefen, hätten wir eine triftige Ausrede. Wir umarmten uns, und ich dachte an die vielen Nächte, die ich in dieser Kammer gelegen und ihn im Geiste geliebt hatte.
Später drückte mich Achill ein letztes Mal an sich und flüsterte schläfrig: »Wenn du gehen musst, komme ich mit dir.« Wir schliefen.
Zwölftes Kapitel
Vom Morgenlicht geweckt, schlug ich die Augen auf. Mir war kalt, denn meine Schulter lag bloß und war dem Luftzug ausgesetzt, der vom Meer durchs Fenster strömte. Der Platz neben mir im Bett war leer, aber noch warm war die Stelle, wo er gelegen hatte.
Ich hatte schon so oft, jedes Mal dann, wenn er seine Mutter besucht hatte, allein in dieser Kammer gelegen, so dass ich nichts Besonderes daran fand. Meine Augen fielen wieder zu und ich dämmerte träumend vor mich hin, bis die Sonne durchs Fenster schien. Die Vögel zwitscherten, und im Palast schien alles auf den Beinen zu sein. Vom Strand und dem Exerzierplatz schallten Stimmen. Ich richtete mich auf. Achills Sandalen lagen neben dem Bett, die Sohlen nach oben. Auch das war nicht ungewöhnlich. Er lief häufig barfuß.