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Wahrscheinlich frühstückte er schon und wollte mich noch eine Weile schlafen lassen, dachte ich. Am liebsten wäre ich bis zu seiner Rückkehr in der Kammer geblieben, was aber als Feigheit hätte ausgelegt werden können. Ich hatte inzwischen ein Recht darauf, an seiner Seite zu sein, und würde mich vor niemandem verstecken und mich nicht vertreiben lassen. Ich zog meinen Hemdrock über und verließ die Kammer, um nach ihm zu suchen.

Im großen Speisesaal war er nicht. Dort räumten die Sklaven gerade das Geschirr von den Tischen. Ebenso wenig war er in der Ratskammer seines Vaters, die, wie ich es kannte, mit bunten Wandteppichen und den Waffen der Könige Phthias geschmückt war. Er war nicht in der Kammer, wo wir früher auf der Leier gespielt hatten. Der Kasten, der unsere Instrumente enthalten hatte, stand unangetastet in einer Ecke.

Ich fand ihn auch draußen nirgends, weder auf den Bäumen, in die wir früher geklettert waren, noch auf dem Felsvorsprung am Meeresufer, wo er immer auf seine Mutter gewartet hatte, oder auf dem Exerzierplatz, wo die jungen Männer mit Holzschwertern zu kämpfen lernten.

Unnötig zu sagen, dass ich außer mir vor Sorge war und nicht mehr klar denken konnte. Ich eilte in die Küche, in den Keller, in die Lagerräume mit ihren Amphoren voller Öl und Wein. Er war nirgends aufzutreiben.

Es war schon Mittag, als ich zu Peleus ging. Ich hatte mit dem alten Mann noch nie allein geredet, und dass ich ihn überhaupt aufsuchte, war meiner großen Unruhe geschuldet. Die Wachen hielten mich auf, als ich seine Kammer betreten wollte. Der König ruhe, sagten sie, er sei allein und wolle nicht gestört werden.

»Ich will nur wissen, ob Achill –« Ich stockte, weil mir bewusst wurde, dass ich Gefahr lief, zu viel Wirbel zu machen und deren Neugier zu wecken. »Ist der Prinz bei ihm?«

»Nein, er ist allein«, wiederholte einer von ihnen.

Als Nächstes eilte ich zu Phoinix, dem alten Berater, der auf Achill aufgepasst hatte, als der noch ein Junge gewesen war. Ich war fast gelähmt vor Angst, als ich sein Gemach betrat, eine bescheidene quadratische Kammer im Zentrum des Palasts. Vor ihm lagen Tontafeln mit den eingeritzten Namen der Männer, die sich am Vorabend zuvor freiwillig zum Kampf um Troja gemeldet hatten.

»Prinz Achill –«, stammelte ich. »Ich kann ihn nirgends finden.«

Er hatte mich nicht kommen hören und blickte überrascht auf. Er hörte schlecht, und seine Augen waren von einem weißen Schleier überzogen.

»Peleus hat es dir also nicht gesagt.« Er sprach leise.

»Nein.« Meine Zunge lag mir wie ein Stein im Mund, so groß, dass ich kaum sprechen konnte.

»Tut mir leid«, sagte er freundlich. »Er ist bei seiner Mutter. Sie hat ihn vergangene Nacht geholt, als er schlief. Die beiden sind weg, und keiner weiß, wohin.«

Später sah ich die roten Flecken, wo sich meine Fingernägel in die Handflächen gebohrt hatten. Keiner weiß, wohin. Auf den Olymp vielleicht, wohin ich nicht folgen konnte. Nach Afrika oder Indien. In irgendein Dorf, wo man sie nicht vermutete.

Phoinix geleitete mich zurück in meine Kammer. Mir schwirrte den Kopf voll verzweifelter Gedanken. Ich nahm mir vor, zu Cheiron zurückzukehren und ihn um Rat zu bitten, war entschlossen, das ganze Land zu durchstreifen und seinen Namen zu rufen. Wahrscheinlich hatte sie ihn betäubt oder überlistet. Er wäre nie freiwillig mit ihr gegangen.

Allein in unserer leeren Kammer stellte ich mir vor, wie sich die Göttin, kalt und weiß im silbrigen Mondschein, über unsere schlafenden Körper gebeugt, ihn aus dem Bett gehoben und auf der Schulter weggetragen hatte wie ein Soldat eine Leiche. Sie war stark und würde wahrscheinlich nur eine Hand gebraucht haben, um ihn festzuhalten.

Warum sie ihn geholt hatte, war nicht schwer zu erraten. Sie hatte uns trennen wollen und die erste Gelegenheit nach unserer Rückkehr aus den Bergen ergriffen. Ich ärgerte mich, wie töricht wir gewesen waren. Dass sie es versuchen würde, war schließlich abzusehen gewesen. Wie hatte ich glauben können, wir wären immer noch von Cheiron geschützt und vor ihr in Sicherheit?

Sie würde Achill in ihre Meeresgrotte führen und ihm beibringen, die Sterblichen zu verachten. Sie würde ihn mit Götterspeisen nähren und das Menschenblut aus seinen Adern waschen. Sie würde eine Gestalt aus ihm machen, die man auf Vasen malte und in Liedern verherrlichte als Held von Troja. Ich stellte mir ihn vor in schwarzer Rüstung mit bronzenen Beinschienen und dunklem Helm, der nur noch seine Augen durchscheinen ließ, mit einem Speer in jeder Hand; er würde mich ansehen und mich nicht erkennen.

Mir war, als faltete sich die Zeit zusammen und schlösse mich in ihre Falten ein. Vor dem Fenster durchlief der Mond seine Phasen und wurde wieder voll. Ich schlief wenig und aß noch weniger. Der Kummer fesselte mich ans Bett. Was mich schließlich doch wieder aufrichtete, war allein meine Erinnerung an Cheiron. Gib das, was dir lieb ist, nicht so einfach auf.

Ich ging zu Peleus und kniete auf einem purpurnen Webteppich vor ihm nieder. Er wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor, legte ihm eine Hand aufs Knie und ergriff mit der anderen sein Kinn zum Zeichen flehentlicher Bitte. Ich hatte diese Geste schon oft beobachtet, selbst aber noch nie zum Ausdruck gebracht. Ich stand unter seinem Schutz, und er war nach göttlichem Gesetz verpflichtet, mich gnädig zu behandeln.

»Wo ist er?«, fragte ich.

Er rührte sich nicht. Ich hatte nicht geahnt, wie intim ein solch demütiges Bittgesuch war und wie nahe wir uns dabei sein würden. Ich lag mit meiner Wange an seiner Brust und hörte sein Herz schlagen. Die Haut seiner Beine war weich und altersdünn.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. Seine Stimme hallte durch die Kammer und ließ die Wachen aufmerken. Ich spürte ihre argwöhnischen Blicke im Rücken. Den König suchten nur selten Bittsteller auf, denn er war ein so gütiger Herrscher, dass von seinen Untertanen kaum jemand zu einem so verzweifelten Schritt gezwungen war.

Ich zog an seinem Kinn, so dass er mir ins Gesicht schauen musste. Er ließ es sich gefallen.

»Ich glaube dir nicht«, sagte ich.

Es blieb eine Weile still.

»Lasst uns allein«, sagte er. Die Worte waren an die Wachen gerichtet. Sie gehorchten nach kurzem Zögern und gingen.

Er beugte sich an mein Ohr.

»Skyros«, flüsterte er.

Ein Ort, eine Insel. Achill.

Als ich aufstand, schmerzten mir die Knie, als hätte ich sehr lange vor ihm gekniet, was vielleicht auch der Fall war. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich in der Königshalle von Phthia zugebracht hatte. Wir standen nun auf Augenhöhe einander gegenüber, doch er wich meinem Blick aus. Er hatte mir geantwortet, weil er ein frommer Mann war und die Götter verlangten, dass er mir als demütigem Bittsteller meinen Wunsch erfüllte. Sonst hätte er es wahrscheinlich nicht getan. In der Luft zwischen uns hing eine dumpfe Schwere, so etwas wie Gram.

»Ich brauche Geld«, sagte ich, ohne zu wissen, woher diese Worte kamen. So hatte ich noch nie gesprochen, niemandem gegenüber. Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der mich so kühn werden ließ. Ich hatte nichts zu verlieren.

»Sprich mit Phoinix. Er wird dir welches geben.«

Ich deutete nur ein Kopfnicken an, dabei wäre es wohl angemessener gewesen, wenn ich ihm auf Knien gedankt und meine Stirn auf den kostbaren Teppich gedrückt hätte. Peleus starrte durchs geöffnete Fenster nach draußen. Das Meer lag hinter einem Flügel des Palasts verborgen, doch wir konnten es beide hören, das ferne Schlürfen von Wasser auf Sand.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte er. Es schien, als wollte er Missmut zum Ausdruck bringen, jedoch klang er einfach nur müde.