Jeder, sogar ich, kannte die Geschichte von Thetis’ Verführung. Die Götter hatten Peleus an einen heimlichen Ort geführt, zu einer Meeresbucht, in der sie sich gern aufhielt. Sie hatten ihn gewarnt, er solle keine Zeit mit Aufwartungen verschwenden – sie würde sich nie freiwillig mit einem Sterblichen einlassen.
Sie hatten ihn außerdem auf das vorbereitet, was er zu erwarten hatte. Die Nymphe Thetis war ähnlich gerissen wie ihr Vater Proteus, jener wandlungsfähige Gott des Meeres, und wusste auf vielfältigste Art und Weise Gestalt anzunehmen, ob in einem Kleid aus Schuppen, Tierhäuten oder Federn. Und sie würde sich mit Schnäbeln, Klauen und Zähnen, mit Schlingen und Stachelschwänzen zur Wehr setzen, doch Peleus dürfe nicht von ihr ablassen.
Peleus war ein frommer und gehorsamer Mann. Er tat, wozu ihm die Götter rieten, und wartete darauf, dass sie den schiefergrauen Wellen entstieg mit ihren schwarzen Haaren, die so lang waren wie ein Pferdeschweif. Da ergriff er sie und hielt sie gepackt, obwohl sie sich heftig wehrte, und sie rangen miteinander, bis beide erschöpft und geschunden im Sand lagen. Das Blut aus den Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, vermischte sich mit der Schmiere ihrer verlorenen Jungfernschaft auf den Schenkeln. Sie hatte sich ihm vergeblich widersetzt, denn eine Entjungferung war so bindend wie ein Ehegelöbnis.
Die Götter verlangten von ihr, dass sie mindestens ein Jahr lang bei ihrem sterblichen Gatten bleiben sollte, und sie diente ihre Zeit auf Erden ab, wie es ihre Pflicht war, wenngleich schweigend und mürrisch. Wenn er ihr nun nahe kam, ließ sie ihn gewähren und wehrte sich nicht, lag stattdessen nur da, kalt wie ein Fisch. Ihr widerwilliger Schoß empfing nur ein einziges Kind, und kaum war die Frist verstrichen, floh sie aus dem Palast und verschwand im Meer.
Wenn sie zurückkehrte, so nur aus dem einzigen Grund, ihren Sohn zu sehen, doch sie blieb nie lange. Das Kind wurde von Ammen und Hauslehrern erzogen und unter die Aufsicht von Phoinix gestellt, dem getreuesten Berater Peleus’. Ob Peleus jemals bereute, von den Göttern beschenkt worden zu sein? Eine gewöhnliche Frau hätte sich an der Seite eines so milden und freundlich lächelnden Gatten wie Peleus glücklich schätzen können, doch der Meeresgöttin Thetis war er in seiner Sterblichkeit und Mittelmäßigkeit nur ein Gräuel gewesen.
Ein Diener führte mich durch den Palast. Seinen Namen hatte ich nicht verstanden, aber vielleicht hatte er ihn auch gar nicht genannt. Die Räume waren kleiner als in meinem früheren Zuhause und entsprachen dem Geist der Bescheidenheit, in dem das Land regiert wurde. Die Wände und Böden waren aus dem Marmor, der hier in der Gegend abgebaut wurde und im Vergleich zu den Steinen, die man im Süden fand, makellos weiß schimmerte. Meine Füße nahmen sich darauf noch dunkler aus.
Ich hatte nichts bei mir. Meine wenigen Habseligkeiten waren in meine Kammer gebracht worden, und das Gold meines Vaters befand sich auf dem Weg in die Schatzkammer. Ich fühlte eine seltsame Panik, als man mich von den Schmuckstücken getrennt hatte, meinen Begleitern auf der wochenlangen Reise, die mir meinen Wert versichert hatten: fünf Kelche mit ziselierten Stielen, ein schweres Zepter, ein Halsband aus getriebenem Gold, zwei schmuckvolle Vögel und eine Leier mit vergoldeten Armen. Letztere war, wie ich wusste, eine betrügerische Beigabe, denn das Instrument bestand natürlich aus billigem Holz und nahm den Platz ein, der mit Gold hätte aufgefüllt sein sollen. Doch es war so wunderschön, dass niemand Einwand erheben konnte. Die Leier stammte aus der Mitgift meiner Mutter. Während der Reise hatte ich immer wieder in die Satteltasche gegriffen, um mit der Hand über das polierte Holz zu streichen.
Ich nahm an, dass man mich in den Thronsaal führte, damit ich dort auf die Knie fallen und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen könnte. Doch plötzlich hielt der Sklave vor einer Seitentür an. König Peleus sei abwesend, erklärte er mir und sagte, dass er mich stattdessen dem Königssohn vorstellen werde. Ich war verärgert, weil ich die artigen Worte, die ich mir unterwegs auf dem Eselsrücken zurechtgelegt hatte, nun nicht vorbringen konnte. Peleus’ Sohn. Ich erinnerte mich noch an den Kranz auf seinen hellen Haaren und an seine rosigen Fußsohlen, auf denen er so flink über die Laufstrecke gerannt war. So sollte ein Sohn sein.
Er lag auf einer breiten, mit Kissen gepolsterten Bank, balancierte eine Leier auf dem Bauch und zupfte gelangweilt an den Saiten. Er hatte mich nicht kommen hören, oder er wollte mich nicht zur Kenntnis nehmen. Jedenfalls wurde mir in dem Moment klar, welchen Platz ich an diesem Ort einnehmen sollte. Bis zu diesem Tag war ich ein Prinz gewesen, dessen Erscheinen angekündigt wurde. Jetzt war ich jemand, den man getrost übersehen konnte.
Ich trat einen Schritt vor und scharrte mit den Füßen, worauf er den Kopf zur Seite drehte und mich beäugte. Vor fünf Jahren hatte ich ihn das erste Mal gesehen und stellte nun fest, dass er aus seiner kindlichen Molligkeit herausgewachsen war. Ich starrte ihn an, tief beeindruckt von seiner Schönheit, den dunkelgrünen Augen und den zarten, fast märchenhaften Gesichtszügen. Ich hingegen hatte mich nicht so sehr verändert, geschweige denn zu meinem Vorteil, weshalb ich bei seinem Anblick neidisch wurde und mit Abneigung reagierte.
Er gähnte und hob die schweren Lider. »Wie heißt du?«
Das Königreich meines Vaters war vielleicht achtmal so groß wie das seines Vaters, ich hatte immerhin einen Jungen getötet, war in die Verbannung geschickt worden, und dennoch kannte er mich nicht. Ich presste die Lippen aufeinander und schwieg.
Wieder fragte er, lauter diesmaclass="underline" »Wie heißt du?«
Dass ich ihm nicht gleich geantwortet hatte, war noch entschuldbar gewesen, es mochte ja sein, dass ich ihn nicht gehört hatte. Nun aber gab es keine Ausrede mehr.
»Patroklos.« Es war der Name, den mir mein Vater nach meiner Geburt hoffnungsvoll, aber unüberlegt gegeben hatte, und er lag mir bitter auf der Zunge. Er bedeutete »zur Ehre des Vaters«. Ich war gefasst darauf, dass der Junge auf der Bank einen Scherz machte und auf meine Schande anspielte. Aber das tat er nicht. Vielleicht, dachte ich, war er ein bisschen zu dumm dazu.
Er drehte sich zur Seite und schaute mich an. Eine Locke seiner goldenen Haare fiel ihm über die Augen. Er blies sie weg. »Mein Name ist Achill.«
Ich hob mein Kinn, und wir betrachteten einander. Dann blinzelte er mit den Augen, gähnte wieder und riss dabei den Mund auf wie eine Katze. »Willkommen in Phthia.«
Ich war an einem Königshof aufgewachsen und wusste, wann man mir zu verstehen gab, dass ich entlassen war.
Noch am selben Nachmittag erfuhr ich, dass ich nicht das einzige Pflegekind von Peleus war. Der bescheidene König erwies sich als durchaus reich an verstoßenen Söhnen. Es hieß, dass er als junger Bursche von zu Hause ausgerissen sei und ein Herz für Verbannte habe. Mein Bett bestand aus einem Strohlager in einem langen kahlen Raum, den ich mir mit anderen Jungen teilte, die sich rauften oder in den Tag hineinträumten. Ein Sklave zeigte mir, wohin man meine Sachen gebracht hatte. Ein paar Jungen hoben die Köpfe und starrten mich an. Einer fragte nach meinem Namen und ich antwortete. Doch sie verloren schnell wieder das Interesse. Niemand Wichtiges. Zaghaft ging ich zu meinem Strohlager und wartete auf das Abendessen.
In der Abenddämmerung rief uns das Geläut einer Bronzeglocke, das aus dem Inneren des Palasts tönte. Die anderen Jungen sprangen auf und eilten hinaus. Ich wähnte mich wie in einem Kaninchenbau, so verschlungen waren die engen, dunklen Korridore. Aus Angst, den Anschluss zu verlieren, trat ich dem Jungen, der vor mir lief, fast in die Hacken.
Die Halle, in der gegessen wurde, befand sich im vorderen Teil des Palasts mit Blick auf die Ausläufer des Othrys-Gebirges und war so groß, dass eine Vielzahl von Gästen darin Platz gefunden hätte. Peleus war bekannt dafür, dass er gern große Feste gab. Wir saßen auf Bänken aus Eichenholz, an Tischen, die offenbar uralt und entsprechend abgenutzt und zerkratzt waren. Das Essen war einfach, aber reichlich – gepökelter Fisch und dicke Scheiben Brot mit Kräuterkäse. Ziegen- oder Rindfleisch gab es nicht. Das war der Königsfamilie vorbehalten oder wurde nur an Festtagen gereicht. Am anderen Ende des Raumes sah ich im Schein der Lampe einen hellen Haarschopf leuchten. Achill. Die Jungen, die neben ihm saßen, amüsierten sich köstlich und lachten, offenbar über etwas, was er gesagt oder getan hatte. So sollte ein Prinz sein. Ich starrte auf mein Brot aus grobem Weizenschrot und strich mit den Fingern über die raue Rinde.