Nach dem Essen durften wir machen, was uns gefiel. Manche Jungen zogen sich in eine Ecke zurück, um zu spielen. »Willst du mitspielen?«, fragte einer. Er hatte noch kindliche Locken und war jünger als ich.
»Spielen?«
»Würfeln.« Er öffnete langsam die Hand und zeigte mir zwei Würfel aus geschnitzten Knochen, betupft mit schwarzer Farbe.
Unwillkürlich wich ich zurück. »Nein«, rief ich aus.
Er zwinkerte überrascht mit den Augen. »Dann eben nicht«, sagte er achselzuckend und ging fort.
In dieser Nacht träumte ich von dem toten Jungen, der mit zerbrochenem Schädel, aufgeschlagen wie ein Ei, am Boden liegt. Er hat mir nachgestellt. Blut strömt, dunkel wie Wein. Er öffnet die Augen, bewegt seine Lippen. Ich halte mir die Ohren zu. Die Stimmen der Toten, so heißt es, können Lebende in den Irrsinn treiben. Ich will kein Wort von ihm hören.
Ich schreckte auf und hoffte, nicht geschrien zu haben. Es war dunkel, vor dem Fenster leuchteten nur die Sterne am mondlosen Himmel. Mein flacher, hastiger Atem durchschnitt die Stille. Unter mir knisterte die Matratze, deren Füllung aus Stroh im Rücken piekste. Die Gegenwart der anderen Jungen tröstete mich nicht. Unsere Toten übten Rache, auch ungeachtet der Zeugen.
Die Gestirne kreisten, der Mond ging auf und zog über den Himmel. Als meine Augen schließlich wieder zufielen, lauerte der Junge noch, blutbesudelt und mit knochenbleichem Gesicht. Natürlich wartete er auf mich. Keine Seele wollte so früh in die endlosen Schatten unserer Unterwelt eingehen müssen. Die Verbannung mochte vielleicht die Lebenden besänftigen, doch die Toten waren damit nicht zufrieden gestellt.
Als ich aufwachte, waren meine Lider verklebt, die Glieder schwer und gefühllos. Die anderen Jungen liefen bereits umher und zogen sich an, um pünktlich zum Frühstück zu erscheinen. Dass ich womöglich ein wenig merkwürdig sei, hatte sich schnell herumgesprochen, und der Junge mit den Locken trat nicht mehr auf mich zu, weder mit Würfeln noch irgendetwas anderem. Am Frühstückstisch stopfte ich mir Brotkrumen in den Mund und schluckte. Man schenkte mir Milch ein und ich trank.
Anschließend wurden wir nach draußen in einen staubigen Hof in die pralle Sonne geführt, um im Umgang mit Speer und Schwert unterrichtet zu werden. Hier sollte ich erfahren, was es mit der Freundlichkeit des Peleus in Wahrheit auf sich hatte. Gut ausgebildet und zu Dank verpflichtet, würden wir ihm eines Tages als tüchtige Kämpfer dienen.
Man gab mir einen Speer. Eine schwielige Hand korrigierte meinen Griff und korrigierte ihn abermals. Ich warf und verfehlte das Ziel, den Stamm einer Eiche, nur knapp. Der Lehrer ließ schnaubend Luft ab und reichte mir einen zweiten Speer. Ich schaute mich im Kreis der anderen Jungen um, auf der Suche nach Peleus’ Sohn. Er war nicht da. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Eiche, deren Borke zerfetzt und aufgebrochen war. Aus den Einschlaglöchern troff Harz. Ich warf.
Die Sonne stieg höher und höher. Meine Kehle war heiß und trocken, Staub brannte darin. Als der Unterricht vorbei war, rannten die meisten Jungen zum Strand, wo immer noch ein leichter Wind wehte. Dort würfelten sie oder jagten einander und rissen Witze in den scharfen Dialekten des Nordens.
Meine Augen waren schwer, und meine Arme schmerzten von den Übungen am Vormittag. Ich setzte mich in den Schatten eines struppigen Olivenbaums und schaute hinaus aufs bewegte Meer. Niemand wechselte ein Wort mit mir. Mich nicht zur Kenntnis zu nehmen war leicht. Es war nicht viel anders als zu Hause.
Der nächste Tag verlief ähnlich, mit ermüdenden Übungen am Vormittag und langen Nachmittagsstunden, die ich allein verbrachte. In der Nacht betrachtete ich den abnehmenden Mond, so lange, bis ich ihn auch mit geschlossenen Augen sehen konnte, als gelbe Sichel vor meinen dunklen Augenlidern. Ich hoffte, sein Anblick würde mir das stets wiederkehrende Bild des Jungen ersparen. Unsere Mondgöttin hat Zauberkräfte und Macht über die Toten. Wenn sie es wollte, konnte sie auch meine Alpträume bannen.
Sie tat es nicht. Der Junge kam, Nacht für Nacht, mit starrem Blick und zerschmettertem Schädel. Manchmal drehte er sich um und zeigte mir das Loch im Kopf, aus dem die weiche Masse seines Gehirns hervorquoll. Ich wachte jedes Mal auf, atemlos vor Entsetzen, und starrte ins Dunkel, bis es hell wurde.
Viertes Kapitel
Das einzig Erleichternde waren für mich die Mahlzeiten im Speisesaal. Unter dem hohen Gewölbe fühlte ich mich nicht so eingeengt, und hier verstopfte mir nicht der Staub vom Exerzierplatz die Kehle. Das Stimmengemurmel und Klappern von Geschirr beruhigten mich. Ich saß allein vor meinem Essen und konnte wieder frei atmen.
Und ich hatte Gelegenheit, Achill zu sehen. Er verbrachte seine Tage woanders und ging als Prinz Pflichten nach, mit denen wir anderen nichts zu tun hatten. Aber die Mahlzeiten nahm er immer mit uns zusammen ein, mal an diesem, mal an jenem Tisch. In der großen Halle leuchtete seine Schönheit wie eine Flamme, lebendig und hell. Immer wieder zog sie meinen Blick auf sich. Sein Mund war wie ein kleiner geschwungener Bogen geformt, die Nase wie ein aristokratischer Pfeil. Wenn er sich setzte, verrenkte er nicht die Glieder, wie ich es tat, sondern ordnete sie anmutig, als säße er Modell für einen Bildhauer. Am bemerkenswertesten war vielleicht seine völlige Unbefangenheit. Im Unterschied zu anderen hübschen Kindern machte er keinerlei Aufhebens um sich. Im Gegenteil, er schien sich seiner Wirkung auf die anderen Jungen überhaupt nicht bewusst zu sein, obwohl er doch hätte bemerken müssen, dass sie sich wie eine Hundemeute um ihn drängten, begierig darauf, von ihm wahrgenommen zu werden.
Ich beobachtete solche Szenen von meinem Tisch in der Ecke, und das Brot zerkrümelte in meiner Faust. Mein Neid war scharf wie ein Feuerstein, nur einen Funken entfernt vom Feuer.
Eines Tages saß er am Nebentisch. Seine staubigen Füße scharrten auf den Steinfliesen, während er aß. Sie waren nicht so schwielig wie meine, sondern rosig an den Sohlen und mit gebräuntem Rist. Prinz, höhnte ich im Stillen.
Er drehte sich um, als hätte er mich gehört. Wir schauten einander an, Panik durchströmte meinen Körper. Ich riss mich von seinem Blick los und zupfte an meinem Brot. Meine Wangen waren heiß, und die Haut prickelte wie vor einem Unwetter. Als ich schließlich wieder hinsah, hatte er sich abgewendet und sprach mit den Jungen am Tisch.
Danach war ich vorsichtiger mit meinen Beobachtungen. Ich hielt den Kopf gesenkt und bewegte nur die Augen, immer auf der Hut, meinen Blick ganz schnell woandershin zu lenken. Aber er war noch gewiefter. Er schaffte es während einer Mahlzeit mindestens einmal, mich in meiner Neugier zu ertappen, ehe ich seinen Blicken ausweichen konnte. In solchen kurzen Momenten empfand ich mehr als im Laufe eines ganzen Tages. Mein Magen verkrampfte sich, und heiße Wut stieg in mir auf. Ich kam mir vor wie ein Fisch am Haken.
In der vierten Woche meiner Verbannung fand ich ihn im Speisesaal an meinem Tisch vor. Ich bezeichnete ihn als meinen Tisch, weil ihn sonst kaum jemand mit mir teilte. Doch jetzt, da er dort saß, drängten sich die Jungen auf den Bänken. Ich erstarrte, hin- und hergerissen von meiner Wut und dem Impuls, Reißaus zu nehmen. Doch die Wut gewann die Oberhand. Es war mein Tisch, und ich würde mich von ihnen nicht verdrängen lassen, egal, wie viele Jungen er auf seiner Seite hatte.