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Doch plötzlich verstand ich. Mir wurde schlecht. Ich hastete nach draußen.

»Wohin gehst du?«, fragte er.

»Ich muss sie warnen«, ächzte ich. »Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie du dich entschieden hast.«

Ihr Zelt steht ein wenig abseits. Es ist klein und mit dunklen Tierhäuten bespannt. »Brisëis«, höre ich mich rufen.

»Tritt ein!« Ihre Stimme klingt herzlich und erfreut. Wir haben vor lauter Arbeit schon lange keine Gelegenheit mehr gehabt, ein persönliches Wort miteinander zu wechseln.

Sie sitzt auf einem Schemel, hält einen Mörser auf dem Schoß und den Stößel in der Hand. In der Luft hängt der Duft von Muskat. Sie lächelt.

Ich fühle mich leer und ausgelaugt. Wie soll ich ihr beibringen, was ich weiß?

»Ich –« Sie sieht mein Gesicht, und ihr Lächeln gefriert. Schnell ist sie auf den Beinen und kommt auf mich zu.

»Was ist?« Mit ihrem Handgelenk fühlt sie meine Stirn. »Bist du krank? Geht es Achill gut?« Ich schäme mich zutiefst. Aber Selbstmitleid ist jetzt fehl am Platz. Sie kommen.

»Es ist etwas passiert«, sage ich mit schwerer Zunge. »Achill hat heute zu den Männern gesprochen und sie darüber aufgeklärt, dass Apoll die Seuche über uns gebracht hat.«

»Wie wir es bereits geahnt haben.« Sie nickt, nimmt meine Hände und versucht, mich zu trösten. Ich muss mich zwingen, fortzufahren.

»Aber Agamemnon wollte nichts davon hören. Er und Achill haben miteinander gestritten. Agamemnon will ihn bestrafen.«

»Ihn bestrafen? Wie?«

Es scheint, als würde sie mir die Antwort vom Gesicht ablesen. Sie erstarrt. »Sprich!«

»Er hat Männer losgeschickt. Um dich zu holen.«

Ich sehe, wie sie in Panik gerät, obwohl sie sich zu beherrschen versucht. Ihre Finger umklammern meine Hand. »Was passiert jetzt?«

Ich wähne mich in einen Alptraum versetzt und hoffe, gleich aufzuwachen und erleichtert aufzuatmen. Doch es geschieht nicht, es ist die Realität: Er wird ihr nicht helfen.

»Er –« Es verschlägt mir die Sprache.

Mehr zu sagen ist nicht nötig. Sie krallt die rechte Hand in ihr Gewand, das nach der schweren Arbeit abgenutzt und verschlissen ist. Stammelnd versuche ich, sie zu trösten, indem ich verspreche, dass wir sie zurückholen und alles gut werden wird. Doch das sind Lügen. Wir beide wissen, was Agamemnon mit ihr vorhat. Auch Achill weiß es und lässt es dennoch geschehen.

Ich wünsche mir Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sintfluten herbei. Nur sie können sich mit meiner Wut und Trauer messen. Ich will, dass die Welt in Scherben zerbricht.

Draußen schmettern Hörner. Brisëis wischt sich die Tränen von der Wange. »Geh«, flüstert sie. »Bitte.« 

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Zwei Männer kommen mit langen Schritten über den weiten Sandstrand auf uns zu. Obwohl noch weit entfernt, leuchten ihre Gewänder in den Farben Agamemnons, verziert mit heraldischen Insignien. Ich kenne beide. Es sind Talthybios und Eurybates, die Boten des Königs von Mykene, bekannt für ihre Diskretion und dafür, dass Agamemnon ihnen größtes Vertrauen schenkt. Hass verschnürt mir die Kehle. Ich wünschte, sie fielen tot um.

Sie nähern sich, passieren unsere Wachposten, die drohend ihre Waffen rasseln lassen. Bis auf zehn Schritte herangekommen, bleiben sie stehen. Vielleicht hoffen sie, rechtzeitig fliehen zu können, sollte Achill die Beherrschung verlieren. Ich male mir aus, wie er über sie herfällt und ihnen das Genick bricht, auf dass ihnen die Köpfe schlaff herabhängen wie bei erlegten Kaninchen.

Sie grüßen stammelnd, treten verlegen auf der Stelle und wagen es nicht, den Blick zu heben. Dann: »Wir sind gekommen, um das Mädchen in Gewahrsam zu nehmen.«

Achill antwortet ihnen, kalt, beherrscht und mit spöttischem Unterton, um seine Wut zu zähmen. Ich weiß, er gibt sich den Anschein von Großmut und Gelassenheit. Er gefällt sich in der Pose des jungen Mannes, der ruhig erträgt, dass man ihm Unrecht tut, und so sollen ihn alle sehen. Ich höre meinen Namen, worauf sich die Blicke der beiden auf mich richten. Ich soll Brisëis holen.

Sie erwartet mich bereits. Ihre Hände sind leer. Sie nimmt nichts mit sich. »Es tut mir leid«, flüstere ich. Sie sagt nichts, kein schon gut; es wäre auch gelogen. Ich spüre die süße Wärme ihres Atems, als sie sich zu mir hinüberbeugt. Ihre Lippen streifen meine Wange. Dann tritt sie an mir vorbei und geht.

Talthybios und Eurybates nehmen sie in ihre Mitte und zerren sie, bei den Armen gepackt, mit sich, offenbar darauf bedacht, möglichst schnell das Weite zu suchen. Sie wirft einen Blick über die Schulter zurück. Die verzweifelte Hoffnung in ihren Augen zerreißt mir das Herz. Ich schaue Achill an, möchte, dass er hinsieht und sich eines Besseren besinnt. Doch er tut es nicht.

Schnellen Schrittes verlassen sie das Lager. Bald kann ich sie von den anderen dunklen Gestalten am Strand nicht mehr unterscheiden.

»Wie konntest du sie gehen lassen?«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Seine Miene ist unergründlich. »Ich muss mit meiner Mutter sprechen«, sagt er.

»Dann geh«, fauche ich.

Ich schaue ihm nach. Meine Handflächen schmerzen, wo sich die Fingernägel eingegraben haben. Ich kenne diesen Mann nicht, denke ich voller Wut auf ihn. Das werde ich ihm nicht verzeihen können. Am liebsten würde ich unser Zelt einreißen, die Leier zerschmettern und mir den Bauch aufschlitzen. Ich will, dass er mich verbluten sieht und an seiner Trauer und Reue zerbricht. Er hat sie Agamemnon überlassen, wohl wissend, was mit ihr geschieht.

Jetzt rechnet er damit, dass ich hier auf ihn warte, ohnmächtig und gehorsam. Ich habe Agamemnon nichts anzubieten im Austausch für ihre Sicherheit. Ich kann ihn nicht bestechen, ihn nicht anbetteln. Allzu lange hat der König von Mykene auf seinen Triumph warten müssen. Er wird sie nicht gehen lassen, sondern vielmehr über sie wachen wie ein Wolf über seine Beute. Am Pelion gab es solche Wölfe, die, wenn sie ausgehungert genug waren, selbst auf Menschen Jagd machten. »Wenn dich einer verfolgt«, riet Cheiron einst, »musst du ihm etwas hinwerfen, das er noch mehr will als dich.«

Es gibt nur eines, das Agamemnon von Brisëis fernhalten könnte. Ich ziehe mein Messer aus der Scheide am Gürtel. Mir bleibt nichts anderes übrig, obwohl sich alles in mir sträubt.

Die Wachen bemerken mich erst, als ihnen keine Zeit mehr bleibt, die Waffen zu heben. Einer erwischt mich beim Kragen, doch ich schlage ihm meine Fingernägel in den Arm, worauf er mich loslässt. Sie sind über mein Auftauchen verwundert und glotzen mich an. Bin ich nicht Achills Schoßhündchen? Wäre ich ein Krieger, würden sie mich zum Kampf stellen, aber das bin ich nicht. Und ehe sie mich aufhalten können, bin ich in Agamemnons Zelt verschwunden.

Sofort fällt mein Blick auf Brisëis. Sie hockt mit gefesselten Händen in einer Ecke. Agamemnon hat mir den Rücken zugekehrt und spricht mit ihr.

Er dreht sich um, verärgert über die Störung, grinst aber dann übers ganze Gesicht, als er mich erkennt. Er glaubt wahrscheinlich, Achill habe mich geschickt mit dem Auftrag, ihn um Gnade zu bitten. Vielleicht hofft er auch auf einen Wutanfall meinerseits, worüber er sich dann köstlich amüsieren würde.

Ich hebe die Klinge. Agamemnon reißt die Augen weit auf und greift zum eigenen Messer am Gürtel. Bevor er seine Wachen rufen kann, stoße ich die Klinge in mein linkes Handgelenk und muss ein zweites Mal zustechen, um die Ader zu finden. Doch dann spritzt Blut. Ich höre Brisëis vor Schreck nach Luft schnappen. Agamemnons Gesicht ist blutbesprenkelt.

»Was ich dir vorzutragen habe, ist von äußerster Wichtigkeit«, sage ich. »Und ich schwöre, bei meinem Blut, dass es die Wahrheit ist.«

Agamemnon ist entsetzt. Blut und Schwur halten ihn zurück. Er ist schon immer abergläubisch gewesen.