»Um was geht’s?«, fragt er, um Fassung bemüht. »Sprich!«
Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Handgelenk sickert.
»Du bist in äußerster Gefahr«, sage ich.
Sein Gesicht verzieht sich zu einer Fratze. »Du willst mir drohen? Hat er dich deshalb zu mir geschickt?«
»Nein. Er hat mich nicht geschickt.«
Er zieht die Augenbrauen zusammen, und ich sehe, wie es in ihm arbeitet, wie sich Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammenfügen. »Aber du kommst mit seinem Segen.«
»Nein«, erwidere ich.
Er hört mir jetzt aufmerksam zu.
»Er weiß, was du mit dem Mädchen vorhast«, sage ich.
Ich wage es nicht, Brisëis direkt anzuschauen, sehe aber aus den Augenwinkeln heraus, dass sie unserem Wortwechsel folgt. Mein Handgelenk durchzieht ein dumpfes Pochen, und ich spüre warmes Blut über die Hand rinnen und von den Fingern tropfen. Ich lasse das Messer fallen und presse den Daumen auf die Pulsader, um die Blutung zu stillen.
»Und?«
»Fragst du dich nicht, warum er nicht eingeschritten ist, als deine Boten das Mädchen geholt haben?« Meine Stimme war voller Verachtung für ihn. »Er hätte deine Männer im Handumdrehen töten können. Glaubst du wirklich, er ließe sich von dir einschüchtern?«
Agamemnons Gesicht läuft rot an. Aber er kommt nicht zu Wort, denn ich fahre fort, ohne zu zögern.
»Er hat zugelassen, dass du sie dir nimmst, obwohl er genau weiß, was du tun wirst. Und das wird dich zu Fall bringen. Sie gehört ihm dank seiner Kampfkraft. Wenn du ihr Gewalt antust, werden sich nicht nur die Soldaten gegen dich wenden, sondern auch die Götter.«
Ich spreche langsam und mit Bedacht, so dass ihn jedes Wort wie ein Pfeil treffen muss. Und es ist wahr, was ich sage, obwohl er so geblendet ist von Stolz und Verlangen, dass er es nicht wahrhaben will. Er hat Brisëis in Besitz genommen, aber sie ist und bleibt Achills Gewinn. Sie zu missbrauchen hieße, ihn in seiner Ehre zu verletzen. Niemand würde Klage erheben, wenn Achill Rache nähme, nicht einmal Menelaos.
»Du hast deine Machtbefugnisse bereits in dem Moment übertreten, als du sie hast herbringen lassen. Die Männer ließen dich gewähren, weil er zu stolz war. Das wird sich jedoch ändern, sobald du sie anrührst.« Wir gehorchen unseren Königen, aber nur aus guten Gründen und nicht blind. Wenn dem Aristos Achaion sein Kriegspreis nicht sicher ist, kann sich niemand seiner Beute sicher sein. Und ein König, der sie streitig macht, hat seine Macht verwirkt.
Das hat Agamemnon nicht bedacht. Allmählich aber dämmert es ihm. »Davon haben meine Ratgeber nichts gesagt«, erwidert er fast kleinlaut.
»Entweder sie wissen nichts von deinen Absichten oder sie verfolgen ihre eigenen Interessen.« Ich lasse ihm ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken. »Wer wird nach dir herrschen?«
Er kennt die Antwort. Odysseus und Diomedes, beide zusammen, mit Menelaos als Repräsentationsfigur. Agamemnon begreift endlich, wie groß das Geschenk ist, dass ich ihm mache. Er ist schließlich nicht dumm.
»Du verrätst ihn, indem du mich warnst.«
So ist es. Achill will Agamemnon ins offene Messer laufen lassen, und ich bewahre ihn davor. »Ja«, erwidere ich im bitteren Tonfall.
»Warum?«, fragt er.
»Weil er im Unrecht ist.« Meine Kehle fühlt sich so rau an, als hätte ich Sand und Salz geschluckt.
Agamemnon geht in sich. Ich bin für meine Ehrlichkeit und Sanftmütigkeit bekannt. Es gibt keinen Grund, mir zu misstrauen. Er lächelt. »Du tust gut daran, ihn zu hintergehen, und erweist damit deinem wahren Herrn Treue und Ergebenheit.« Er genießt seine Worte, wie es scheint. »Weiß er, dass du zu mir gekommen bist?«
»Noch nicht«, antworte ich.
»Ah.« Mit halb geschlossenen Augen stellt er sich vor, wie Achill davon erfährt. Es bereitet ihm sichtliches Vergnügen, was er genüsslich auskostet. Was gibt es Schlimmeres, als von seinem engsten Vertrauten an seinen ärgsten Feind verraten zu werden?
»Wenn er kommt und auf Knien um Verzeihung bittet, lasse ich sie frei. Es ist einzig und allein sein eigener Stolz, der seiner Ehre schadet. Ich bin es nicht. Sag ihm das.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wende ich mich Brisëis zu. Ich durchschneide das Seil, das sie gefesselt hält. Ihr Blick lässt erkennen, dass sie weiß, was mich dieser Schritt gekostet hat. »Dein Handgelenk«, flüstert sie. Triumph und Verzweiflung erfüllen mich und ich bekomme kein Wort über die Lippen. Der sandige Zeltboden ist rot gefärbt von meinem Blut.
»Behandle sie gut«, sage ich.
Ich gehe und rede mir ein, dass sie nicht mehr in Gefahr ist. Er weidet sich jetzt an meinem Geschenk. Mit einem Fetzen aus meinem Gewand verbinde ich mir das Handgelenk. Mir wird schwindelig, und ich weiß nicht, ob es am Blutverlust liegt oder an dem, was ich getan habe. Auf schweren Beinen schleppe ich mich über den Strand zurück.
Er steht vor dem Zelt. Sein Leibrock ist noch feucht vom Knien im Wasser. Er wirkt müde.
»Wo warst du?«
»Im Lager.« Noch bin ich nicht bereit, ihm alles zu sagen. »Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut. Du blutest.«
Der Verband ist durchnässt.
»Ich weiß«, entgegne ich.
»Lass sehen.« Ich folge ihm ins Zelt. Er nimmt meinen Arm und wickelt den Stofffetzen ab, spült die Wunde mit frischem Wasser und versorgt sie mit fein zerstoßener Schafgarbe und Honig.
»Ein Messer?«, fragt er.
»Ja.«
Uns beiden ist klar, dass ein Sturm heraufzieht. Wir zögern den Ausbruch von Blitz und Donner so lange wie möglich hinaus. Er verbindet die Wunde mit einem sauberen Tuch, gibt mir zu trinken und zu essen. Ich kann seiner Miene ablesen, dass ich krank und bleich aussehe.
»Wirst du mir sagen, wer dich verletzt hat?«
Mir liegt es geradezu auf der Zunge zu sagen »Du«, aber das wäre kindisch.
»Ich war es selbst.«
»Warum?«
»Um einem Schwur Nachdruck zu verleihen.« Es lässt sich nicht länger zurückhalten. Ich schaue ihm in die Augen. »Ich war bei Agamemnon und habe ihm von deinem Plan berichtet.«
»Von meinem Plan?« Er spricht ohne Anteilnahme, fast wie weggetreten.
»Dass du den Missbrauch an Brisëis in Kauf nimmst, um dich an ihm rächen zu können.« Der laut ausgesprochene Gedanke schockiert mich mehr als vermutet.
Er steht auf und wendet sich ab. Ich kann ihm nicht ins Gesicht blicken, sehe nur die Schultern und den angespannten Nacken.
»Du hast ihn gewarnt?«
»Ja.«
»Du weißt, ich hätte ihn töten können, wenn er sich an ihr vergeht.« Seine Stimme ist immer noch flach und ohne Ton. »Oder vom Thron stürzen und in die Wüste jagen. Die Männer hätten mich verehrt wie einen Gott.«
»Ich weiß«, bestätige ich.
Es wird bedrohlich still zwischen uns. Ich bin darauf gefasst, dass er mich anschreit oder schlägt. Aber er schaut mich nun an, endlich.
»Ihre Sicherheit für meine Ehre. Bist du zufrieden mit diesem Tausch?«
»Der Verrat an Freunden ist nicht ehrenhaft.«
»Seltsam, dass ausgerechnet du in diesem Zusammenhang von Verrat sprichst.«
Seine Worte schmerzen unerträglich. Ich zwinge mich, an Brisëis zu denken. »Ich wusste keinen anderen Rat.«
»Du hast dich für sie entschieden«, sagte er. »Gegen mich.«
»Gegen deinen Stolz.« Ich verwende das Wort Hybris, das für himmelschreiende Überheblichkeit steht, für Besessenheit und Frevel.
Er ballt die Hände zu Fäusten. Vielleicht wird er mich jetzt schlagen.
»Ich lebe für meinen Ruf«, sagt er mit stockendem Atem. »Mehr bleibt mir nicht, und ich werde bald sterben. In Erinnerung zu bleiben ist alles, worauf ich hoffen kann.« Er schluckt krampfhaft. »Du weißt das und lässt trotzdem zu, dass Agamemnon diesen Ruf zunichtemacht. Du hilfst ihm sogar dabei.«
»Das tue ich nicht«, entgegne ich. »Aber ich möchte, dass du als der erinnert wirst, der du bist, und nicht als irgendein Tyrann, über den Tod hinaus berüchtigt für seine Grausamkeiten. Es gibt andere Möglichkeiten, Agamemnon büßen zu lassen. Die solltest du ergreifen, und dabei helfe ich dir. Aber was du heute getan hast, rechtfertigt keinen Ruhm.«