Mir schnürt sich vor Angst die Kehle zu. Ich möchte auf die Knie fallen und ihn anflehen. Aber das tue ich nicht, denn wie Phoinix habe auch ich mich schon entschieden. Ich will mich nicht länger treiben lassen, ins Dunkle und darüber hinaus, auf einem Kurs, den allein Achill vorgibt.
Ajax reagiert sehr viel weniger gelassen als Odysseus. Er hat dessen Gleichmut nicht und macht aus seiner Wut kein Hehl. Es hat ihn viel gekostet, zu uns gekommen zu sein und sich als Bittsteller klein zu machen. Wenn Achill nicht kämpft, ist er der Aristos Achaion.
Ich erhebe mich mit den anderen und reiche Phoinix meinen Arm. Er ist sehr müde und kann sich kaum auf den Beinen halten. Ich helfe ihm zu seinem Lager, und als ich unser Zelt betrete, ist Achill bereits eingeschlafen.
Trauer und Enttäuschung übermannen mich, hatte ich doch gehofft, noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln, in seinen Armen zu liegen und mich davon überzeugen zu können, dass es neben dem Achill, den ich beim Essen sah, noch einen anderen gibt. Ich lasse ihn träumen und schleiche nach draußen.
Ich kauere auf losem Sand im Schatten eines kleinen Zelts.
»Brisëis?«, rufe ich leise.
Es bleibt eine Weile still. Dann: »Patroklos?«
»Ja.«
Sie schlägt die Zeltplane auf und zieht mich hinein. Ihr ist anzusehen, dass sie sich fürchtet. »Du dürftest nicht hier sein«, flüstert sie aufgebracht. »Es ist zu gefährlich. Agamemnon wütet. Er wird dich töten.«
»Weil Achill seine Gesandtschaft zurückgewiesen hat?«, frage ich.
Sie nickt und beeilt sich, den brennenden Kienspan auszublasen. »Agamemnon kommt häufig, um nach mir zu sehen. Du bist hier nicht sicher.« Im Dunkeln kann ich ihr Gesicht nicht erkennen, doch ihre Stimme ist voller Sorge. »Du musst gehen.«
»Ich habe etwas mit dir zu bereden. Es dauert nicht lange.«
»Dann musst du dich verstecken. Er kommt immer ohne Vorwarnung.«
»Wo?« Das Zelt ist klein. Es gibt darin nur eine Pritsche, Kissen, Decken und ein paar Kleidungsstücke.
»Im Bett.«
Sie lässt mich unter Decken verschwinden und legt sich neben mich. Ihr Duft, ihre Wärme und vertraute Nähe hüllen mich ein. Ich flüstere ihr ins Ohr: »Odysseus sagt, dass die Trojaner morgen unser Lager stürmen werden. Wir müssen dich verstecken. Unter den Myrmidonen oder im Wald.«
Ich spüre ihre Wange an meiner. Sie schüttelt den Kopf. »Da werden sie als Erstes nach mir suchen, und wenn sie mich finden, gibt es nur noch mehr Ärger. Es ist besser, ich bleibe hier.«
»Aber was, wenn sie das Lager einnehmen?«
»Dann ergebe ich mich Äneas, dem Vetter Hektors. Es heißt, er sei ein frommer Mann, und sein Vater lebte eine Zeitlang als Hirte in der Nähe meines Dorfes. Wenn nicht bei ihm, werde ich bei Hektor oder einem der anderen Söhne Priamos’ Zuflucht suchen.«
Ich schüttele den Kopf. »Das ist zu gefährlich. Du darfst dich nicht zeigen.«
»Sie werden mir nichts antun. Ich bin schließlich eine von ihnen.«
Ich komme mir töricht vor. Für sie sind die Trojaner natürlich Befreier und keine Bedrohung. »Verstehe«, hauche ich. »Du wirst dann wieder frei sein. Und vielleicht möchtest du mit –«
»Brisëis!« Die Plane wird beiseitegeworfen. Agamemnon steht im Eingang.
»Ja?« Sie richtet sich auf und gibt acht, dass die Decke, unter der ich liege, nicht verrutscht.
»Mit wem sprichst du?«
»Ich habe gebetet, mein Herr.«
»Im Liegen?«
Durch das dicke Gewebe hindurch sehe ich eine Fackel brennen. Seine Stimme ist so laut, als stünde er direkt neben uns. Ich rühre mich nicht. Wenn er mich hier findet, wird sie dafür bestraft.
»So hat es mir meine Mutter beigebracht, mein Herr.«
»Du solltest es inzwischen besser wissen. Hat dir der Götterjüngling nicht erklärt, wie man betet?«
»Nein, mein Herr.«
»Ich habe ihm heute angeboten, dich zurückzugeben, aber er will dich nicht.« Ich höre den hässlichen Unterton seiner Stimme. »Und wenn er weiterhin auf dich verzichtet, erhebe ich Anspruch auf dich.«
Ich balle meine Hände zu Fäusten. Aber Brisëis sagt nur:
»Ja, mein Herr.«
Ich höre die Zeltbahn fallen. Das Licht verschwindet. Ich rühre mich erst wieder, als Brisëis neben mir ist.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sage ich.
»Keine Sorge. Er droht nur. Es gefällt ihm, mir Angst zu machen.«
Ihr nüchterner Tonfall entsetzt mich. Wie kann ich sie jetzt allein lassen? Und doch, wenn ich bleibe, gerät sie in noch größere Gefahr.
»Ich muss gehen«, sage ich.
»Warte.« Sie berührt meinen Arm. »Die Männer –«, sie zögert. »Sie sind zornig auf Achill und geben ihm die Schuld an ihren Verlusten. Agamemnon lässt sie von seinen Dienern anstacheln. Die Seuche ist fast vergessen. Und je länger sich Achill verweigert, desto mehr wird man ihn hassen.« Ich fürchte nichts mehr, als dass sich Phoinix’ Mahnung bewahrheitet. »Wird er den Kampf wieder aufnehmen?«
»Erst dann, wenn sich Agamemnon entschuldigt.«
Sie beißt sich auf die Lippen. »Auch die Trojaner fürchten und hassen niemanden mehr als unseren Freund. Wenn sie morgen Gelegenheit dazu finden, werden sie ihn töten, und mit ihm alle, die ihm lieb und teuer sind. Du musst dich vorsehen.«
»Er wird mich beschützen.«
»Ich weiß, das wird er«, sagt sie, »solange er lebt. Aber nicht einmal Achill kann es mit Hektor und Sarpedon gleichzeitig aufnehmen.« Sie zögert wieder. »Wenn das Lager fällt, werde ich behaupten, du seist mein Gatte. Vielleicht hilft das. Vorausgesetzt, du verschweigst, was er für dich bedeutet. Es wäre dein Todesurteil, wenn du dich offenbaren würdest.« Sie hielt meinen Arm umklammert. »Versprich es mir.«
»Brisëis«, sage ich. »Wenn er tot ist, was ist dann mein Leben noch wert?«
Sie drückt meine Hand an ihre Wange. »Dann versprich mir etwas anderes«, sagt sie. »Versprich mir, dass du Troja nicht ohne mich verlässt, egal, was passiert. Ich weiß, du kannst mir nicht –« Sie unterbricht sich. »Ich würde lieber als Schwester an deiner Seite leben, als hier zurückzubleiben.«
»Daran muss ich mich nicht mit einem Versprechen binden«, entgegne ich. »Wenn du es willst, nehme ich dich gern mit. Sollte der Krieg tatsächlich morgen enden, wäre es mir unerträglich, dich nie wieder zu sehen.«
Sie lächelt wehmütig. »Das freut mich.« Ich behalte für mich, dass ich nicht daran glaube, Troja jemals zu verlassen.
Ich nehme sie in die Arme und drückte sie an mich. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter, und für einen Moment vergessen wir alle Gefahr und drohendes Unheil. Ich streichle ihre Wange und gebe mich ganz dem Wohlgefühl hin, das sich einstellt bei der Berührung ihrer weichen Haut und dem Lavendelduft ihrer Haare. Seufzend schmiegt sie sich an mich. So könnte, stelle ich mir vor, mein Leben sein. Wir könnten heiraten und ein Kind miteinander haben.
Wenn es Achill nicht gäbe, vielleicht.
»Es ist besser, ich gehe jetzt«, sage ich.
Sie schlägt die Decke beiseite, um mich aufstehen zu lassen, nimmt aber noch einmal meinen Kopf in ihre Hände und sagt: »Sei vorsichtig, bester aller Myrmidonen.« Bevor ich etwas einwenden kann, verschließt sie mit ihren Fingern meinen Mund. »Es ist so. Lass es gelten.« Dann führt sie mich zum Ausgang, hält die Zeltbahn auf und drückt mir zum Abschied die Hand.
In der Nacht liege ich neben Achill. Im Schlaf sieht er aus wie ein unschuldiger Knabe. Ich liebe diesen Anblick, der zum Ausdruck bringt, wie er von Grund auf ist: ernst und arglos, voller Mutwillen, aber ohne Tücke. Er ist der Hinterlist von Agamemnon und Odysseus, ihren Lügen und Machtspielen ausgeliefert. Sie haben ihn in Verwirrung gebracht, geködert und an sich gefesselt. Ich streichle seine Stirn. Wenn ich es könnte und er es zuließe, würde ich seine Fesseln lösen.