Neunundzwanzigstes Kapitel
Geschrei und Donnerschläge reißen uns aus dem Schlaf. Ein Unwetter scheint heraufgezogen zu sein. Es regnet nicht, doch durch den grauen, knisternden Dunst flackern Blitze, und es ist, als klatschten riesige Hände aufeinander, wenn sie einschlagen. Wir eilen nach draußen. Dunkler, beißender Rauch treibt vom Strand herbei und trägt den Gestank verbrannter Erde mit sich. Die Trojaner greifen an, und Zeus macht seine Drohung wahr, indem er ihnen mit seinen Blitzen himmlisches Geleit zukommen lässt. Wir spüren ein Beben im Boden, ausgelöst von Streitwagen, die wahrscheinlich der riesige Sarpedon anführt.
Achill ergreift meine Hand, verzieht aber keine Miene. Es ist das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass die Trojaner so weit vorrücken und unser Lager bedrohen. Wenn sie unsere Palisaden durchbrechen, die Schiffe in Brand setzen und uns damit die Möglichkeit nehmen, nach Hause zurückzukehren, sind wir keine Streitmacht mehr, sondern Flüchtlinge. Was Achill und seine Mutter prophezeit haben, wird sich erfüllen. Die Griechen sind ohne ihn verloren. Der schlagende Beweis seines Werts wäre erbracht. Reicht es nicht jetzt? Wann wird er eingreifen?
»Nie«, antwortet er, als ich ihn frage. »Nicht bevor Agamemnon mich um Verzeihung bittet und wenn nicht Hektor selbst in mein Lager kommt und mich bedroht, was mir lieb wäre. Ich habe es geschworen.«
»Und wenn Agamemnon fällt?«
»Bring mir seinen Leichnam, und ich werde kämpfen.« Sein Gesicht ist wie aus Stein gemeißelt, dem Standbild eines finsteren Gottes gleich.
»Fürchtest du nicht die Verachtung der Männer?«
»Sie sollten Agamemnon hassen. Sein Stolz bringt Tod und Verderben.«
Wie der deine. Sein dunkler, harter Blick verrät, dass er nicht einlenken wird. In den achtzehn Jahren, die wir zusammenleben, hat er nie nachgegeben, sich stets durchgesetzt. Was wird geschehen, wenn er zum Nachgeben gezwungen wird? Ich habe Angst um ihn, um mich, um uns alle.
Wir ziehen uns an und essen. Achill spricht von der Zukunft, davon, dass wir morgen vielleicht schwimmen gehen, den harzigen Stamm einer Zypresse erklimmen oder nach jungen Meeresschildkröten suchen, die gerade jetzt im warmen Sand aus ihren Eiern schlüpfen. Ich höre ihn kaum. Meine Gedanken schweifen ab, hin zu den grauen Rauchschwaden, unter denen sich der Strand knochenbleich erstreckt, zu den fernen Schreien sterbender Männer, die ich kenne. Wie viele wird der Tod ereilt haben, wenn der Tag zu Ende ist?
Ich sehe ihn aufs Meer hinausstarren. Es ist ungewöhnlich still, als hätte Thetis die Luft angehalten. Seine Augen sind dunkel, die Pupillen geweitet vom trüben Licht des Morgens. Eine Strähne fällt ihm in die Stirn, einer züngelnden Flamme gleich.
»Wer ist das?«, fragt er plötzlich. Unten am Strand wird jemand auf einer Trage zum weißen Zelt gebracht, offenbar jemand von Bedeutung, denn es scharen sich viele Männer um ihn.
Ich ergreife die Gelegenheit, mich auf anderes zu besinnen. »Ich werde nachsehen.«
Jenseits der Palisaden schwillt der Schlachtenlärm an. Pferde wiehern, Kommandanten brüllen, Metall prallt klirrend aufeinander.
Podaleirios stürmt an mir vorbei aufs weiße Zelt zu. In der stickigen Luft hängt der Geruch von Kräutern und Blut, Angst und Schweiß. Nestor ist plötzlich neben mir und legt mir seine Hand auf die Schulter, die so kalt ist, dass ich vor Schreck zusammenfahre. Er brüllt: »Wir sind verloren! Der Wall bricht!«
Hinter ihm liegt Machaon keuchend auf einer Trage. Ein abgebrochener Pfeil steckt in seinem blutüberströmten Schenkel. Podaleirios beugt sich über ihn.
Machaon sieht mich. »Patroklos«, ächzt er.
Ich gehe zu ihm. »Ist es schlimm?«
»Weiß nicht. Ich glaube –« Er stockt und kneift die Augen zu.
»Sprich ihn nicht an«, zischt Podaleirios. Seine Hände sind rot vom Blut des Bruders.
Nestor meldet lautstark eine Schreckensnachricht nach der anderen: Die Palisaden brechen, die Schiffe sind in Gefahr und viele Könige liegen verwundet am Boden, Diomedes, Agamemnon und Odysseus.
Machaon schlägt die Augen auf. »Kannst du nicht mit Achill reden?«, krächzt er. »Bitte, tu’s für uns.«
»Ja! Phthia muss uns helfen. Sonst sind wir verloren.« Nestor krallt mir die Finger ins Fleisch.
Ich schließe die Augen und erinnere mich an Phoinix’ Geschichte, an das Bild der vor Kleopatra knienden Kalydoner, die bittere Tränen weinen. In meiner Vorstellung schaut sie die Bittsteller nicht an, sie reicht ihnen nur ihre Hände, als wären es Tücher, mit denen sie ihre Augen trocknen könnten. Sie wirft einen Blick auf ihren Gatten Meleager, dessen verschlossene Lippen sagen, was sie wissen muss: »Nein.«
Ich reiße mich von Phoinix los und will dem sauren Gestank der Angst entfliehen, der sich wie Staub auf alles legt. Ich sehe Machaons schmerzverzerrtes Gesicht, seine bittend ausgestreckten Arme und verlasse Hals über Kopf das Zelt.
Draußen wird ein schreckliches Bersten laut. Es klingt, als stürzten riesige Bäume zu Boden. Der Palisadenwall. Schreie folgen, triumphierende und entsetzte zugleich.
Überall um mich herum werden gefallene Krieger fortgetragen, Männer schleppen sich auf provisorischen Krücken vorbei oder kriechen durch den Sand, zerschmetterte Glieder hinter sich herziehend. Ich erkenne sie alle, ich habe ihre Wunden versorgt, ihnen Verbände angelegt, während sie mit schmerzverzerrten Gesichtern auf der Trage lagen. Jetzt liegen sie wieder in ihrem Blut. Wegen ihm. Wegen mir.
Vor mir schwankt ein junger Mann, dem ein Pfeil das Bein durchschlagen hat. Eurypylos, Prinz von Thessalien.
Ich zögere nicht lange, lege seinen Arm über meine Schulter und helfe ihm ins Zelt. Er ist außer sich vor Schmerzen, erkennt mich aber. »Patroklos«, ächzt er.
Ich knie vor ihm nieder und untersuche die Wunde. »Eurypylos, kannst du sprechen?«, frage ich.
»Dieser Hurensohn Paris«, stammelt er. »Mein Bein.« Der Muskel ist zerfetzt und geschwollen. Ich greife nach meinem Dolch und mache mich ans Werk.
Er knirscht mit den Zähnen. »Ich weiß nicht, wen ich mehr hassen soll, die Trojaner oder Achill. Sarpedon hat die Palisaden mit bloßen Händen eingerissen, und Ajax konnte es nicht verhindern. Sie sind nun hier«, sagt er keuchend. »Im Lager.«
Ich will Reißaus nehmen, zwinge mich aber zu bleiben und richte all meine Aufmerksamkeit darauf, die Pfeilspitze aus dem Bein zu ziehen und die Wunde zu verbinden.
»Beeil dich«, sagt er mit schleppender Stimme. »Ich muss zurück. Sie setzen sonst unsere Schiffe in Brand.«
»Du kannst jetzt nicht zurück«, entgegne ich. »Du hast zu viel Blut verloren.«
»Nein.« Er lässt den Kopf in den Nacken zurückfallen und verliert die Besinnung. Ob er am Leben bleibt oder nicht, entscheiden die Götter. Mehr kann ich nicht für ihn tun. Ich hole tief Luft und trete aus dem Zelt ins Freie.
Zwei Schiffe stehen in Flammen, in Brand gesetzt von trojanischen Fackeln. Männer hasten schreiend über die Decks, verzweifelt bemüht, das Feuer zu löschen. Der Einzige, den ich erkenne, ist Ajax. Er steht breitbeinig im Bug von Agamemnons Schlachtschiff, die massigen Schultern gestrafft. Er achtet nicht auf die Flammen und sticht mit seinem Speer auf die Feinde ein, die unter ihm wie hungrige Fische das Schiff umwimmeln.
Starr vor Entsetzen sehe ich plötzlich eine Hand über das Gewühl hinauslangen und den Steven ergreifen, dann den Arm, kräftig und dunkel, schließlich den Kopf und den breitschultrigen Rumpf, der sich einem Delfin gleich aus der brodelnden Menge emporschwingt. Hektor. Seine braun gebrannte Gestalt windet sich aus dem Wasser und scheint darüber zu schweben, die Augen gen Himmel gerichtet – ein Mann im Gebet, in Zwiesprache mit den Göttern. Die Rüstung hebt sich mit den Schultern und entblößt seine Hüfte, deren Beckenknochen dem gemeißelten Gesims eines Tempels gleichen. Mit der anderen Hand schleudert er eine brennende Fackel aufs Deck.