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Aus der wild wogenden Menge bricht ein Streitwagen hervor. Sein Lenker ist riesig, und seine langen Haare fliegen im Wind, als er die schäumenden Rosse voranpeitscht. Die dunklen Augen sind auf mich gerichtet, der Mund ist wutverzerrt. Wie einem Seehund das Fell passt ihm der Panzer. Es ist Sarpedon.

Er hebt den Arm und zielt mit dem Speer auf mein Herz. Automedon reißt die Zügel herum. Ich spüre einen Lufthauch im Nacken und sehe den Speer hinter uns ins Feld einschlagen.

Sarpedon brüllt; ob er mich verflucht oder zum Kampf herausfordert, kann ich nicht unterscheiden. Ich glaube zu träumen und hebe meinen Speer, voller Wut auf den Mann, der so viele Griechen getötet und unseren Palisadenzaun eingerissen hat.

»Nein!« Automedon hält meinen Arm zurück, während er mit der freien Hand die Pferde antreibt. Sarpedon wendet seinen Wagen, und es scheint, dass er aufgibt. Doch dann wirft er das Gespann wieder herum und holt mit einem weiteren Speer zum Wurf aus.

Plötzlich bäumt sich eins unserer Pferde auf. Ich werde aus dem Wagen geschleudert und lande im Gras. Der Helm ist mir über die Augen gerutscht. Ich schiebe ihn zurück und sehe unsere Pferde ineinander verkeilt. Eins liegt, vom Speer getroffen, am Boden. Automedon scheint verschwunden.

Schon steuert Sarpedon sein Gespann auf mich zu. Mir bleibt keine Zeit zu fliehen. Ich springe vom Boden auf und hebe den Speer, halte ihn gepackt wie eine Schlange, die es zu würgen gilt. Achills Beispiel vor Augen, setze ich einen Fuß vor und straffe die Schultern. Achill würde eine Lücke in der Rüstung finden, oder aber eine hineinschlagen. Doch ich bin nicht Achill. Was ich sehe, ist etwas anderes: meine einzige Chance. Ich werfe den Speer.

Er trifft seinen Bauch mit so viel Wucht, dass der Riese zurücktaumelt und vom Wagen stürzt. Die Pferde springen an mir vorbei und lassen ihn zurück, reglos im Gras liegend. Ich lege meine Hand an den Griff meines Schwerts, voller Furcht, er stünde gleich auf, mich zu töten. Doch dann sehe ich seinen seltsam verrenkten Hals.

Ich habe Zeus’ Sohn getötet, doch damit ist es nicht getan, sie sollen glauben, er sei Achill zum Opfer gefallen. Der Staub senkt sich auf Sarpedons lange Haare. Ich trete auf ihn zu und stoße ihm einen weiteren Speer mit aller Macht durch die Brust. Blut sickert aus der Wunde, aber nur ein wenig, denn da ist kein Herzschlag mehr, der es hätte stärker quellen lassen. Nur mit Mühe kann ich den Speer wieder herausziehen.

Ich höre die Schreie der auf Streitwagen und zu Fuß herbeischwärmenden Meute, Lykier, die ihren König vor mir am Boden liegen sehen. Plötzlich spüre ich eine Hand im Nacken. Automedon, bleich vor Angst, zerrt mich zurück in den Wagen und treibt die Pferde an. »Wir müssen fort von hier«, keucht er.

Wir rasen über das Feld, gejagt von den Lykiern. Mir selbst ist nicht bewusst, wie nahe ich dem Tod war und noch bin. In meinem Mund ist ein Geschmack wie von Eisen, mein Blut so sehr in Wallung, dass mir der Kopf schwirrt.

Der Fluchtweg führt uns dicht an Troja vorbei. Zu meiner Seite ragen die Stadtmauern auf, aus riesigen Steinen angeblich von Göttern gefügt, darin die gewaltigen, bronzebeschlagenen Tore. Achill hat mich vor den Bogenschützen gewarnt, doch auf den Brustwehren ist kein einziger Mann zu sehen. Die Stadt scheint unbewacht zu sein. Sie einzunehmen wäre jetzt ein Kinderspiel.

Der Gedanke weckt wildes Verlangen in mir. Der Feind hat verdient, dass seine Feste verloren geht. Seit zehn Jahren setzt er uns zu und lichtet unsere Reihen. Auch Achill werden sie auf dem Gewissen haben. Es ist genug.

Ich springe vom Streitwagen und renne auf die Mauern zu, suche kletternd mit den Fingern greifbare Spalten und nutze jede Unebenheit der von Göttern behauenen Steine, um mich mit den Füßen abzustützen. So steige ich Armlänge um Armlänge nach oben. Ich will die unbezwingbare Stadt bezwingen und Helena befreien. Ihretwegen soll kein Mann mehr sterben müssen. Ich stelle mir vor, sie unter dem Arm ins Lager zurückzuschleppen und ihrem Gatten vor die Füße zu werfen.

Patroklos. Eine Stimme wie Musik, von oben. Ich blicke hinauf und sehe eine Gestalt in einer Mauernische lehnen, so lässig, als sonnte sie sich. Dunkle Haare fallen ihr auf die Schultern. Um den Rumpf sind Köcher und Bogen geschlungen. Vor Schreck rutsche ich aus und schabe mit den Knien an der Mauer entlang. Dieser Mann ist von bestechender Schönheit, hat glatte Haut und ein fein geschnittenes Gesicht, von dem ein übermenschlicher Glanz ausgeht. Schwarze Augen. Apoll.

Er lächelt, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet, darauf, dass ich ihn erkenne. Dann streckt er den Arm aus, reicht, was im Grunde unmöglich scheint, bis tief zu mir hinab. Ich schließe die Augen und spüre, wie sich ein Finger in meine Rüstung hakt, mich von der Mauer löst und fallen lässt.

Ich schlage auf dem Boden auf, verwundert darüber, dass der Aufprall kaum ins Gewicht fällt, hatte ich doch geglaubt, hoch hinaufgestiegen zu sein. Verbissen setze ich zu einem neuen Versuch an. Ich will die Mauer bezwingen, sie soll mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Mir schwindelt wie im Fieberwahn. Die Vorstellung, Helena zu erbeuten, ist mir zu Kopf gestiegen. Die Mauersteine kommen mir vor wie dunkles Wasser, das sich auf mich ergießt. Den Gott in der Nische habe ich vergessen, so auch den Grund, warum ich gestürzt bin und immer wieder stürze. Erneut renne ich gegen die Wand an, und als ich diesmal hinaufblicke, lächelt der Gott nicht mehr. Er zupft mich von der Mauer, lässt mich eine Weile baumeln und dann fallen.

Ich schlage mit dem Kopf auf, bekomme keine Luft mehr. Verschwommene Gestalten beugen sich über mich. Sind mir unsere Männer zu Hilfe gekommen? Dann spüre ich einen kühlen Hauch auf der schweißnassen Stirn. Man hat mir den Helm abgenommen. Ich sehe ihn neben mir am Boden liegen, umgedreht wie ein leeres Schneckenhaus. Auch mein Rüstzeug fällt von mir ab, von Achill angelegt und nun von einem Gott gelöst.

Durch die eisige Stille gellen wütende Schreie. Mit Schrecken wird mir bewusst: Ich bin unbewaffnet und dem Feind ausgeliefert. Man wird mich als Patroklos erkennen.

Ich raffe mich auf, renne los. Eine Speerspitze streift meine Wade und reißt einen Schlitz in die Haut. Einer Hand, die nach mir greift, kann ich noch ausweichen, aber schon sehe ich einen Speerträger vor mir, der mit seiner Waffe auf mein Gesicht zielt. Sie schwirrt über meinen geduckten Kopf hinweg und fährt durch meine Haare wie eine zärtliche Hand. Über eine lange Lanze, die vor meinen Füßen im Gras einschlägt, springe ich hinweg, und dass ich nicht schon tot bin, verblüfft mich selbst am meisten. So schnell bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.

Der Speer, den ich nicht kommen sehe, bohrt sich mir von hinten durch den Rücken und bricht vorn unter dem Rippenbogen hervor. Von der Wucht des Stoßes zu Fall gebracht, stürze ich der Länge nach zu Boden und spüre, wie sich die Speerspitze zurück in den Bauch schiebt. Ich glaube, ich schreie.

Das Blut rinnt mir durch die Finger ins Gras. Die Menge, die sich um mich geschart hat, teilt sich, und ich sehe einen Mann auf mich zukommen. Er steigt, wie es scheint, aus weiter Ferne zu mir herab, als läge ich in einer tiefen Schlucht. Ich kenne ihn. Seine Hüftknochen erinnern mich an Tempelgesims. Seine Stirn ist stark gefurcht. Ohne auf die Männer zu achten, die ihn umschwirren, schreitet er über das Feld. Er kommt, um mir den Todesstoß zu versetzen. Hektor.

Ich hechle und glaube, mit jedem Atemzug im Inneren weiter aufzureißen. Trommelschlägen gleich dröhnen mir Erinnerungen durch den Kopf. Er kann mich nicht töten. Er darf es nicht. Und wenn er es tut, wird Achill ihn nicht leben lassen. Dabei muss er leben, immer, und darf nie sterben, nicht einmal dann, wenn er alt ist und so welk, dass sich jeder Knochen unter seiner Haut abzeichnet. Er muss leben, geht es mir durch den Kopf, als ich kriechend vor ihm zurückzuweichen versuche, denn solange er lebt, lebt auch Achill.