Verzweifelt blicke ich in die Runde der Männer und richte mich auf den Knien auf. Bitte, krächze ich. Bitte.
Aber sie beachten mich nicht. Sie schauen auf ihren Prinzen, Priamos’ ältesten Sohn, der mit unaufhaltsamen Schritten auf mich zukommt. Schon steht er vor mir, den Speer erhoben. Ich höre nur noch das Ächzen meiner Lungen und das Rasseln von Blut und Luft darin. Die Speerspitze neigt sich über mir wie ein Krug. Und dann stürzt sie herab, ein silberner Strahl vor meinen Augen.
Nein. Meine Hände fliegen in die Höhe wie aufgescheuchte Vögel. Aber ich bin schwach wie ein Kind im Vergleich zu Hektor. Ich kann den Stoß nicht aufhalten, geschweige denn abwehren. Sinnlos auch, dass ich den Schaft noch zu packen versuche, als das Eisen schon meinen letzten Schutzschild durchdringt, dünne Haut, die nachgibt wie Papier. Die Spitze taucht ein mit brennenden Schmerzen, die mir den Atem nehmen. Mein Kopf schlägt zurück auf den Boden, und das Letzte, was ich sehe, ist Hektor, der vor mir aufragt und den Speer aus meinem Leib zerrt. Mein letzter Gedanke: Achill.
Einunddreißigstes Kapitel
Achill steht auf einer Anhöhe und beobachtet das Kampfgeschehen. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, wohl aber, dass die Griechen den Feind auf der Ebene vor sich hertreiben, zurück zur Stadt, wie von Patroklos vorhergesagt. Bald wird er zurückkehren und Agamemnon auf die Knie fallen müssen. Dann werden sie wieder glücklich sein.
Doch statt Freude macht sich ein dumpfes Gefühl breit. Vor den Toren der Stadt verdichten sich die Krieger zu einem dunklen Knoten. Ein König oder Prinz ist gefallen, und man kämpft um den Leichnam. Wer ist es? Er schirmt mit der Hand das gleißende Sonnenlicht ab, vermag aber nicht mehr zu sehen. Patroklos wird ihm berichten müssen.
Jetzt sind Einzelheiten zu erkennen. Männer kehren über den Strand zum Lager zurück. Odysseus hinkt. Menelaos trägt etwas auf seinen Armen. Ein von Gras grün gefärbter Fuß hängt herab. Unter einem Tuch treten dunkle Locken zum Vorschein. Das Gefühl der Dumpfheit ist gnädig, jedoch nur eine kurze Weile. Dann kann es ihn nicht mehr schützen.
Er will sich in sein Schwert stürzen, doch als er danach zu greifen versucht, erinnert er sich: Er hat mir das Schwert gegeben. Und dann steht Antilochos neben ihm und hält ihn fest. Andere Männer kommen hinzu. Er starrt auf das blutdurchtränkte Hemd, stößt mit lautem Aufschrei Antilochos von sich, entreißt Menelaos den Leichnam und sackt darüber zusammen. Er ist außer sich, hört nicht auf zu schluchzen. Patroklos, schreit er, Patroklos. Immer und immer wieder. Odysseus fällt auf die Knie und reicht ihm einen Trunk. Dass er ihn nicht in blinder Wut erschlägt, verdankt sich allein dem Umstand, dass er nicht von mir ablassen kann. Er drückt mich so fest an sich, dass ich sein Herz schlagen höre, obwohl es nur so schwach ist wie das Flattern einer Motte. Ein Echo, das mich noch an meinen Körper bindet. Eine Qual.
Brisëis eilt mit entsetzter Miene herbei. Sie beugt sich über den Leichnam, verströmt bittere Tränen und schlägt die Hände vors Gesicht. Achill nimmt keine Notiz von ihr. Er scheint sie nicht einmal zu sehen und steht auf.
»Wer hat es getan?« Seine Stimme klingt schrecklich, rau und gebrochen.
»Hektor«, antwortet Menelaos. Achill greift nach seinem großen Speer aus Eschenholz und reißt sich von den Händen los, die ihn halten.
Odysseus packt ihn bei den Schultern. »Morgen«, sagt er. »Er ist jetzt in der Stadt. Morgen. Hör auf mich, Pelides. Morgen kannst du ihn töten. Das verspreche ich dir. Aber jetzt musst du essen und ruhen.«
Achill weint. Er isst nicht, noch spricht er ein Wort. Nur meinen Namen nennt er und wiegt mich in seinen Armen. Ich sehe sein Gesicht wie durch Wasser, wie ein Fisch die Sonne sieht. Tränen tropfen auf mich herab. Ich kann sie nicht wegwischen. Dies nun ist mein Element: das halbe Leben eines unbestatteten Geistes.
Seine Mutter kommt. Wenn sie mich schon zu Lebzeiten verachtet hat, wie schrecklich muss es erst für sie sein, meinen Leichnam in den Armen ihres Sohnes vorzufinden?
»Er ist tot«, sagt sie mit flacher Stimme.
»Hektor ist tot«, entgegnet er. »Morgen.«
»Du hast keine Rüstung.«
»Ich brauche keine.« Es kostet ihn Mühe zu sprechen.
Sie streckt ihre bleichen, kühlen Arme aus, um seine Hände von mir zu lösen. »Er hat es sich selbst zuzuschreiben«, sagt sie.
»Rühr mich nicht an!«
Sie weicht zurück und betrachtet ihn, wie er mich in den Armen wiegt.
»Ich besorge dir Rüstzeug«, sagt sie.
So geht es in einem fort: Der Zelteinstieg öffnet sich und jemand blickt mit vorsichtiger Miene herein. Phoinix, Automedon, Machaon. Schließlich auch Odysseus. »Agamemnon ist gekommen, um dir das Mädchen zurückzugeben.« Dass es längst zurückgekehrt ist, sagt Achill nicht. Vielleicht weiß er es nicht.
Im flackernden Feuerschein schauen beide einander an. Agamemnon räuspert sich. »Es ist Zeit, dass wir unseren Streit begraben, Achill. Ich bringe dir das Mädchen, unversehrt.« Er legt eine Pause ein, als erwarte er Dank. Doch da ist nur Stille. »Wahrlich, ein Gott muss uns um den Verstand gebracht haben, dass wir so zerstritten sind. Aber damit soll es jetzt vorbei sein, und wir wollen wieder Verbündete sein.« Letzteres spricht er so laut, dass es die Männer im Hintergrund hören können. Achill schweigt. In Gedanken steht er bereits Hektor gegenüber, um ihn zu töten. Das hält ihn aufrecht.
Agamemnon zögert. »Prinz Achill, wie ich höre, willst du morgen wieder kämpfen.«
»So ist es.« Seine plötzliche Antwort erschrickt alle.
»Gut so, sehr gut.« Agamemnon lässt einen weiteren Moment verstreichen. »Auch an den Tagen danach?«
»Wenn du es willst«, erwidert Achill. »Es kümmert mich nicht. Ich werde bald tot sein.«
Die Männer im Hintergrund tauschen verwunderte Blicke.
»Nun, das wäre also geregelt.« Agamemnon schickt sich an zu gehen, bleibt aber noch einmal stehen. »Dass Patroklos gefallen ist, tut mir leid. Er hat sich heute tapfer geschlagen. Wusstest du, dass er Sarpedon getötet hat?«
Achill hebt den Kopf. Seine Augen sind blutunterlaufen und leblos. »Ich wünschte, er hätte euch alle sterben lassen.«
Agamemnon ist zu schockiert, um etwas darauf zu entgegnen. Odysseus bricht das Schweigen. »Wir werden dich jetzt mit deiner Trauer allein lassen, Prinz Achill.«
Brisëis kniet neben meinem Leichnam. Sie hat Wasser gebracht und ein Tuch und wäscht mir das Blut und den Schmutz von der Haut, so sanft, als badete sie einen Säugling und säuberte nicht einen leblosen Leib. Achill betritt das Zelt, und ihre Blicke begegnen sich über meinem Leichnam.
»Lass von ihm ab«, sagt er schroff.
»Ich bin gleich fertig. Er hat es nicht verdient, im Schmutz zu liegen.«
»Nimm deine Hände weg!«
Ihre feuchten Augen blitzen. »Glaubst du, du seist der Einzige, der ihn geliebt hat?«
»Raus, verschwinde!«
»Ist er dir tot lieber als lebendig?«, fragt sie mit bitterer Stimme. »Wie konntest du ihn gehen lassen? Du wusstest, dass er nicht kämpfen kann.«
Achill schreit und wirft eine Schale zu Bruch. »Raus!«
Brisëis verzieht keine Miene. »Töte mich. Ihn bringst du damit nicht zurück. Er war zehnmal wertvoller als du. Zehnmal. Und du schickst ihn in den Tod.«
Er stößt einen Laut aus, der nicht mehr menschlich zu nennen ist. »Ich habe ihn aufzuhalten versucht. Ich habe ihm gesagt, er soll den Strand nicht verlassen.«
»Er ist deinetwegen in den Kampf gezogen.« Brisëis tritt auf ihn zu. »Um dich und deinen Ruf zu retten, an dem dir so viel liegt. Weil er nicht mit ansehen konnte, wie du leidest.«