Achill schlägt die Hände vors Gesicht, doch sie lässt sich nicht erweichen. »Du hast ihn nicht verdient, und mir ist ein Rätsel, wie er dich lieben konnte. Du hast doch nur dich selbst im Sinn.«
Achill hebt den Blick. Sie hat Angst, weicht aber nicht zurück. »Ich hoffe, Hektor tötet dich.«
Der Atem kratzt in seiner Kehle. »Das hoffe ich selbst«, stößt er hervor.
Er weint, als er mich auf unser Bett hebt. Es ist heiß im Zelt, und bald wird sich Leichengeruch ausbreiten. Er scheint sich nicht daran zu stören, hält mich die ganze Nacht in seinen Armen und presst meine kalten Hände auf seinen Mund.
Im Morgengrauen kehrt seine Mutter zurück mit Schild, Schwert und bronzenem Brustpanzer, gerade erst geschmiedet, denn er ist noch warm. Wortlos betrachtet sie ihn, als er sich rüstet.
Ohne auf Automedon oder seine Myrmidonen zu warten, läuft er den Strand entlang, vorbei an den Griechen, die zu ihren Waffen greifen und folgen. Sie wollen sich nicht entgehen lassen, was nun bevorsteht.
»Hektor!«, brüllt er. »Hektor!« In unaufhaltsamer Wut durchbricht er die vorrückenden Reihen der Trojaner, und noch ehe diejenigen, die er niedergestreckt hat, zu Boden gegangen sind, ist er schon weiter. Das Gras, ausgedünnt nach zehn Jahren Krieg, trinkt das Blut von Prinzen und Königen.
Doch Hektor weicht ihm aus und taucht immer wieder unter im Gewimmel. Ihm scheinen die Götter zu helfen, und niemand nennt ihn einen Feigling. Den Zweikampf würde er nicht überleben. Er trägt Achills Rüstung, unverkennbar am Gepräge des Phönix auf der Brustplatte, die neben meiner Leiche lag. Die Männer starren den beiden nach. Es scheint fast, als jagte Achill sich selbst hinterher.
Hektor rennt auf den Skamander zu, den breiten Fluss vor Troja. Wegen des gelben Gesteins, für das Troja bekannt ist, schimmert sein Wasser milchig golden.
Heute hingegen ist es schlammig und rot verfärbt. Hektor stürzt sich in die Wellen und schwimmt durch das Treibgut aus Helmen und Leichen. Er erreicht das andere Ufer. Achill setzt ihm nach.
Plötzlich steigt eine Gestalt aus dem Fluss und versperrt ihm den Weg. Schmutziges Wasser rinnt über die muskulösen Schultern, tropft aus einem schwarzen Bart. Er ist größer als der größte aller Sterblichen und strotzt vor Kraft. Er liebt das trojanische Volk, das ihm im Sommer Wein opfert und seine Fluten mit Blumengirlanden schmückt. Fromm wie kein anderer ist Hektor, der Prinz von Troja.
Achills Gesicht ist blutverschmiert. »Du hältst mich nicht zurück.«
Der Flussgott Skamander hebt eine mächtige Keule, so groß wie ein Baumstamm. Achill hat nur sein Schwert. Seine Speere stecken in gefallenen Kriegern.
»So leichtfertig setzt du dein Leben aufs Spiel?«, fragt der Gott.
Nein. Bitte. Aber ich habe keine Stimme. Achill steigt in den Fluss und hebt sein Schwert.
Der Gott holt mit der Keule zum Schlag aus. Achill duckt sich und entgeht auch dem zweiten Hieb, von Fäusten geführt, die so groß sind wie Kälber. Wieder auf den Beinen, stößt Achill sein Schwert auf die ungeschützte Brust des Gottes. Doch der lässt die Klinge, die bislang noch nie ihr Ziel verfehlt hat, wirkungslos an sich abprallen.
Der Gott greift an. Seine Schläge zwingen Achill durch das Treibgut zurück ans Ufer. Er bewegt seine Keule wie einen Hammer, und wo sie niedergeht, schießen riesige Fontänen empor. Achill weicht jedem dieser Schläge aus. Das Wasser scheint ihn nicht zu behindern.
Achills Schwert schwingt schneller als jeder Gedanke, kann den Gott aber nicht gefährden. Skamander pariert jeden Hieb mit seiner Keule und zwingt ihn, noch schneller zu sein. Er ist ein alter Gott, alt wie die allererste Eisschmelze in den Bergen, und trickreich. Er kennt jede Schlacht, die auf dieser Ebene ausgefochten wurde, und lässt sich durch nichts überraschen. Achill wird langsamer. Mit nur dünner Klinge den Gott auf Abstand zu halten erschöpft seine Kräfte. Holz splittert, sooft die Waffen aufeinandertreffen, doch die Keule ist so dick wie Skamanders Schenkel, vergebens zu hoffen, dass sie bricht. Mit Blick auf das Menschlein, das seine Attacken kaum mehr parieren kann, macht sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. Unaufhaltsam schlägt er zu. Achills Gesicht ist von Anstrengung gezeichnet. Er kämpft am Rand, am äußersten Rand seiner Kraft. Er ist schließlich nur ein Halbgott.
Ich sehe, wie er sich für einen letzten verzweifelten Angriff sammelt. Dann stößt er blitzschnell zu und zwingt Skamander auszuweichen. Auf diesen Moment hat er gewartet. Ich sehe ihn zum alles entscheidenden Stoß ansetzen. Er springt.
Und zum ersten Mal in seinem Leben ist er nicht schnell genug. Der Gott fängt den Stoß ab. Achill wankt, kaum merklich. Der Gott aber sieht es wohl. Er nutzt die Schwäche des Gegners und lässt die Keule siegesgewiss und mit tödlicher Wucht auf ihn niedersausen.
Er hätte es besser wissen müssen, so auch ich, der diese edlen Füße kein einziges Mal hat straucheln sehen. Sie treten nie fehl. Achill hat menschliche Schwäche nur vorgetäuscht, und der Gott fällt auf seine List herein.
Skamander greift an und öffnet seine Deckung dem Schwertstoß Achills. In der Seite des Gottes klafft eine Wunde, und der Fluss färbt sich wieder golden vom Saft, der seinem Meister entströmt.
Skamander wird nicht sterben, doch geschwächt und müde muss er sich in die Berge schleppen, zurück zu seinen Quellen, um aus ihnen wieder neue Kraft zu schöpfen. Er taucht im Fluss unter und ist verschwunden.
Obwohl er keuchend nach Luft schnappt, gönnt sich Achill keine Rast. »Hektor!«, brüllt er und nimmt die Jagd wieder auf.
Kaum hörbar flüstern die Götter:
Er hat einen von uns geschlagen.
Was mag geschehen, wenn er die Stadt angreift?
Die Zeit für Trojas Niedergang ist noch nicht gekommen.
Und ich denke: Sorgt euch nicht um Troja. Er ist auf Hektor aus, nur auf ihn. Wenn Hektor tot ist, wird er die Waffen strecken.
Am Fuß der mächtigen Mauern Trojas wächst in einem Hain der heilige Lorbeerbaum. Unter seinen Zweigen hat Hektor Zuflucht gesucht. Doch hier treffen die beiden nun aufeinander. Der eine ist dunkel. Er steht da, als hätten seine Füße tiefe Wurzeln ins Erdreich getrieben. Sein Helm, der Brustpanzer und die Beinschienen sind aus poliertem Gold. Mir passten sie gut, doch ihm sind sie zu klein. Seine Kehle ist ungeschützt.
Der andere ist kaum wiederzuerkennen, so verzerrt ist sein Gesicht. Seine Kleider sind noch nass vom Kampf im Fluss. Er hebt seinen aus Eschenholz geschnitzten Speer.
Nein, flehe ich ihn an. Es ist sein eigener Tod, den er in der Hand hält, sein eigenes Blut, das vergossen wird.
Hektors Augen sind geweitet, er flieht nicht länger. »Gewähre mir eines. Übergib meinen Leichnam meiner Familie, wenn du mich getötet hast.«
Achill scheint seine Antwort herauswürgen zu müssen. »Es gibt keine Geschäfte zwischen Löwen und Menschen. Ich werde dich töten und dein Fleisch roh verschlingen.« Sein Speer fliegt. Die Spitze glimmt wie der Abendstern und bohrt sich in Hektors Hals.
Achill kehrt zum Zelt zurück, in dem ich aufgebahrt liege. Er ist über und über mit Blut verschmiert, als hätte er in den Kammern eines riesigen Herzens gebadet, daraus er gerade erst, immer noch tropfend, wieder hervorgestiegen ist. An einem um Hektors Füße gebundenen Lederriemen schleift er dessen Leiche hinter sich her. Das mit Blut und Staub beschmierte Gesicht ist so schwarz wie sein Bart, nachdem er, an seinen Streitwagen gebunden, ins Lager der Griechen gezogen wurde.
Die Könige Griechenlands empfangen ihn.
»Du hast heute triumphiert, Achill«, sagt Agamemnon. »Nimm ein Bad und ruh dich aus. Danach werden wir deinen Sieg feiern.«