Das Herz der Stadt ist gebrochen. Die griechischen Könige beladen ihre Schiffe mit goldenen Säulen und Prinzessinnen. Schneller, als ich es für möglich gehalten habe, packen sie ihre Zelte und Gerätschaften ein und räumen das Lager. Der Strand gleicht bald einem bis auf die Knochen abgenagten Kadaver.
Ich zeige mich in ihren Träumen. Geht nicht, flehe ich sie an. Nicht bevor ihr mir meinen Frieden gegeben habt. Doch niemand antwortet.
Pyrrhos wünscht ein letztes Opfer für seinen Vater, bevor sie in See stechen. Die Könige versammeln sich am Grab. Mit seinen Gefangenen Andromache, Königin Hekabe und der jungen Prinzessin Polyxena im Gefolge zelebriert Pyrrhos das Ritual. Er führt die drei Frauen nunmehr ständig mit sich zum Zeichen seines Triumphs.
Kalchas bringt ein weißes Kalb zum Grabstein. Doch als er zum Messer greift, hält Pyrrhos ihn zurück. »Ein einziges Kalb? Ist das alles? Nur das, was jedem gewöhnlichen Mann zukäme? Mein Vater war der Aristos Achaion, der beste von allen, und sein Sohn hat sich als noch besser erwiesen. Und ihr wollt geizen?«
Pyrrhos packt Polyxena bei ihrem Gewand und zerrt sie zum Altar. »Hier ist, was die Seele meines Vaters verdient.«
Nein, das kann er nicht wagen.
Wie zur Antwort schmunzelt Pyrrhos. »Ihm wird’s gefallen«, sagt er und schlitzt ihr die Kehle auf.
Ich kann es immer noch schmecken, dieses Gemisch aus Salz und Eisen. Es sickert ins Gras, unter dem wir begraben sind, und entsetzt mich. So ist es nicht gemeint, wenn es heißt, dass die Toten nach Blut dürsten. Nicht nach ihrem.
Morgen werden die Griechen aufbrechen. Ich bin verzweifelt.
Odysseus.
Er schläft, wenn auch nicht tief. Seine Augenlider flackern.
Odysseus. Hör mich an!
Er zuckt, ist selbst im Schlaf nicht entspannt.
Als du ihn um Hilfe gebeten hast, habe ich geantwortet. Willst du mir jetzt nicht ebenfalls antworten? Du weißt, was er für mich war, wusstest es schon, bevor du uns hierhergeführt hast. Unser Friede liegt in deiner Hand.
»Entschuldige, dass ich so spät noch störe, Prinz Pyrrhos.« Er schenkt ihm sein freundlichstes Lächeln.
»Ich schlafe nicht«, sagt Pyrrhos.
»Das trifft sich gut. Und es erklärt, warum du mehr schaffst als alle anderen.«
Pyrrhos mustert ihn aus verengten Augen, unschlüssig, wie er das Kompliment deuten soll.
»Wein?« Odysseus hebt einen Schlauch in die Höhe.
»Warum nicht?« Pyrrhos deutet mit der Kinnspitze auf zwei Kelche. »Lass uns allein«, sagt er zu Andromache. Während sie ihre Kleider zusammenrafft, schenkt Odysseus ein.
»Nun, du wirst zufrieden sein mit dem Erreichten. Erst elf Jahre alt und schon ein Held. Das können nur wenige von sich behaupten.«
»Keiner.« Seine Stimme ist kalt. »Was willst du?«
»Ich fürchte, mein Gewissen regt sich.«
»Oh –«
»Wir brechen morgen auf und lassen viele tote Griechen hinter uns zurück. Sie sind alle bestattet, und ihr Name kennzeichnet ihr Grab, das an sie erinnert. Von einem abgesehen. Obwohl ich kein frommer Mann bin, gefällt mir der Gedanke nicht, dass Seelen unter uns Lebenden wandeln, ohne zur Ruhe zu kommen. Ich möchte nicht von rastlosen Geistern heimgesucht werden.«
Pyrrhos hört zu und verzieht verächtlich den Mund, wie es seine Art ist.
»Ich kann nicht behaupten, ein Freund deines Vaters gewesen zu sein. Aber ich habe seine Fähigkeiten bewundert und ihn als Kämpfer wertgeschätzt. In zehn Jahren lernt man einen Menschen kennen, ob man es will oder nicht. Darum bin ich überzeugt, dein Vater wollte nicht, dass Patroklos vergessen wird.«
Pyrrhos versteift sich. »Hat er das so gesagt?«
»Er hat verlangt, dass die Asche des Gefährten mit seiner vermengt und eins wird. Damit wollte er also auch das Gedenken an ihn bewahrt wissen.« Zum ersten Mal freue ich mich über seine Cleverness.
»Ich bin sein Sohn. Ich entscheide, was sein Geist wünscht.«
»Eben aus diesem Grunde bin ich gekommen. Ich selbst habe nichts zu verlieren, bin ein ehrlicher Mann, der Wert darauf legt, das Recht geschieht.«
»Hältst du für rechtens, dass der Ruhm meines Vaters um eines Sklaven willen geschmälert wird?«
»Patroklos war kein Sklave. Als Prinz geboren, wurde er in die Verbannung geschickt. Er hat unserem Heer tapfer gedient, und viele bewunderten ihn. Durch seine Hand fiel Sarpedon, der nach Hektor stärkste Krieger Trojas.«
»In meines Vaters Rüstung. Dank seines Ruhms.«
Odysseus neigt den Kopf zur Seite. »Zugegeben. Aber Ruhm ist etwas Sonderbares. Manche erringen ihn erst nach ihrem Tod, und bei vielen verblasst er schon zu Lebzeiten. Was die eine Generation bewundert, verabscheut mitunter die nächste.« Er breitet seine großen Hände aus. »Niemand weiß, wer den Vernichtungsfeldzug der Erinnerung überlebt.« Er lächelt. »Vielleicht werde ich eines Tages berühmt sein, womöglich berühmter als du.«
»Das bezweifle ich.«
Odysseus zuckt mit den Achseln. »Wir können es nicht vorhersehen, denn wir sind nur Menschen und unser Leben ein kurzes Aufflackern. Die uns nachfolgen, werden uns nach Belieben erhöhen oder herabsetzen. Patroklos könnte denen angehören, die später hoch geachtet werden.«
»Nie und nimmer.«
»Es wäre zumindest eine gute Tat, fromm und großherzig, eine Ehrung deines Vaters und eine Gefälligkeit gegenüber einem Toten, der ein Recht auf Ruhe hat.«
»Er ist eine Schande für meinen Vater und für mich. Nimm deinen sauren Wein und geh!« Seine Worte klingen wie brechendes Holz.
Odysseus steht auf, rührt sich aber nicht vom Fleck. »Hast du eine Frau?«, fragt er.
»Natürlich nicht.«
»Ich habe meine Frau seit zehn Jahren nicht gesehen und weiß nicht, ob ich sie jemals lebend wiedersehen werde.«
Ich dachte immer, das mit seiner Frau sei ein Scherz, eine frei erfundene Geschichte. Aber er spricht jetzt langsam, mit milder Stimme und es scheint, als würde er jedes Wort aus großer Tiefe hervorbringen müssen.
»Ich tröste mich damit, dass wir spätestens in der Unterwelt wieder zusammentreffen. Dass wir uns, wenn nicht zu Lebzeiten, immerhin dort wiedersehen. Ohne sie will ich nicht sein.«
»Mein Vater hatte keine solche Frau«, sagt Pyrrhos.
Odysseus betrachtet die unergründliche Miene des jungen Mannes. »Ich habe mein Möglichstes getan«, sagt er. »Dass ich es versucht habe, möge in Erinnerung bleiben.«
Ich bin ihm dankbar.
Die Griechen segeln davon und nehmen meine Hoffnung mit sich. Ich kann ihnen nicht folgen, denn ich bin gebunden an diesen Ort, der meine Asche birgt unter dem aus Stein gehauenen Obelisken seines Grabmals. Ich weiß nicht, ob er sich kalt oder warm anfühlt, wenn man die Hand darauf legt. ACHILL steht darauf geschrieben. Er ist in die Unterwelt gefahren, ich bleibe hier zurück.
Menschen besuchen sein Grab. Manche halten Abstand, als fürchteten sie, sein Geist könnte daraus hervorspringen und sie zum Kampf herausfordern. Andere treten näher heran, um die Szenen aus seinem Leben zu betrachten, die auf die Schnelle, aber klar erkennbar in den Stein gemeißelt wurden: wie er Memnon tötet, Hektor, Penthesilea. Nichts als Mord und Totschlag. Ähnliche Bilder werden Pyrrhos’ Grabmal schmücken. Wird er damit in Erinnerung bleiben?
Thetis kommt. Wo sie geht und steht, verdorrt das Gras unter ihren Füßen. Ich empfinde Hass wie schon lange nicht mehr. Sie schuf Pyrrhos und liebt ihn mehr als Achill.