Sie schaut sich die Reliefs auf dem Grabstein an, Mordszene um Mordszene, und streckt die Hand aus, um sie zu berühren. Ich kann es nicht ertragen.
Thetis, sage ich.
Ihre Hand schreckt zurück. Sie verschwindet.
Später kommt sie wieder. Thetis. Sie reagiert nicht, steht nur stumm da und betrachtet das Grabmal ihres Sohnes.
Auch ich liege hier begraben. In Achills Urne.
Sie rührt sich nicht. Sie hört mich nicht.
Jeden Tag kommt sie. Sie setzt sich vor den Stein, und mir ist, als spürte ich ihre Kälte durch das Erdreich bis zu mir herabdringen. Ich vermag es nicht, sie zu vertreiben, aber ich kann sie hassen.
Du bezichtigst Cheiron, ihn verdorben zu haben. Aber das ist nicht wahr. Wenn ihn einer verdorben hat, dann warst du es allein, und das weißt du. Sieh nur, als was er im Gedächtnis bleiben wird. Als Mörder von Hektor und Troilos. Für grausame Taten, die er in tiefster Trauer begangen hat.
Ihr Gesicht ist steinern wie das Grabmal. Tage kommen und gehen.
Vielleicht verstehen Götter solche Taten als tugendhaft. Aber was soll am Töten ruhmreich sein? Menschen umzubringen ist nicht schwer. Sorg dafür, dass die Geschichten, die man sich von ihm erzählt, mehr enthalten.
»Mehr wovon?«, fragt sie.
Das erste Mal habe ich keine Angst vor ihr. Was könnte sie mir auch antun?
Er gab Hektors Leichnam an Priamos zurück, antworte ich. Daran soll man sich erinnern.
Sie schweigt lange. »Und woran noch?«
An sein Leierspiel und seine wunderschöne Stimme.
Sie scheint auf mehr zu warten.
An die Mädchen, die er unter seinen Schutz stellte, damit sie nicht in die Hände eines anderen gerieten.
»Dafür hast du gesorgt.«
Warum bist du nicht bei Pyrrhos?
Ihre Augen flackern. »Er ist tot.«
Wie ich mich freue! Wie ist er gestorben?
»Agamemnons Sohn hat ihn getötet.«
Warum?
Sie lässt sich mit der Antwort lange Zeit. »Er raubte dessen Braut.«
»Du wirst tun, was ich verlange«, hatte er auf Brisëis’ Frage geantwortet, was er von ihr wolle. Hast du ihn Achill vorgezogen?
Sie presst die Lippen aufeinander. »Hast du noch andere Erinnerungen zu bieten?«
Ich bestehe aus Erinnerungen.
»Dann sprich!«
Lieber würde ich schweigen, doch meine Trauer um ihn ist so viel stärker als meine Wut. Ich möchte von dem sprechen, was nicht tot oder göttlich ist. Ich möchte, dass er lebt.
Es fällt mir schwer, einen Anfang zu finden. Aber meine Erinnerungen quellen hervor wie Wasser im Frühling, so schnell, dass ich sie nicht eindämmen kann. Es sind keine Worte, die mir einfallen, sondern eher Träume, die wie Düfte aus regenfeuchter Erde aufsteigen. Dies und das kommt mir in den Sinn. Der Glanz seiner Haare im Licht der Sommersonne. Sein Gesicht, wenn er läuft. Seine Augen, ernst und aufgeschlossen. Dies und das. So viele glückliche Momente drängen nach oben.
Sie schließt die Augen. Ihre Lider haben die Farbe blassen Sandes. Zuhörend erinnert auch sie sich.
Sie erinnert sich, an einem Strand gestanden zu haben. Wie der Schweif eines Pferdes fällt ihr langes schwarzes Haar bis weit über die Schultern herab. Vor den Felsen brechen sich schiefergraue Wellen. Ein Sterblicher überwältigt sie mit seinen groben Händen und tut ihr Gewalt an. Später vermählen die Götter sie mit ihm.
Sie erinnert sich an das Kind, das strahlend in der Dunkelheit ihres Leibes heranwächst. Und sie wiederholt im Stillen, was ihr die drei alten Frauen geweissagt haben: Dein Sohn wird seinen Vater überragen.
Die anderen Götter erschraken darüber, denn sie wissen, was mächtige Söhne ihren Vätern antun. Zeus’ Blitze stinken immer noch nach versengtem Fleisch und Vatermord. Sie haben ihr einen Sterblichen an die Hand gegeben, damit er das mächtige Kind im Zaum halte, es vermenschliche und vermindere.
Sie hält ihren Bauch mit den Händen und spürt ihn darin heranwachsen. Es ist ihr Blut, das ihn stark macht.
Freudig eilt sie über den Strand auf unser Zelt zu. Er hat soeben Hektor erschlagen. Unsterblicher Ruhm ist ihm gewiss. Sie teilt die Zeltbahn und will sich mit ihm freuen, schaut aber in ein Gesicht, das entstellt ist vor Kummer und Gram. Er weicht ihr aus, als sie ihn zu berühren versucht. Sein Anblick, fleckig, kläglich und matt, entsetzt sie.
Warum gehst du nicht zu ihm?
»Ich kann nicht.« Dem schmerzlichen Klang ihrer Stimme nach scheint etwas in ihr zu zerbrechen. »Ich kann nicht zu ihm hinabsteigen.« In die Unterwelt mit ihren finsteren Höhlen und flackernden Seelen, zu der nur Tote Zugang haben. »Mehr bleibt mir nicht«, sagt sie mit starrem Blick auf das Denkmal. Eine Ewigkeit aus Stein.
Ich beschwöre das Bild des Jungen herauf. Sein Strahlen, als er die Feigen in den Händen hält. Seine grünen Augen, die mich anlachen. Fang, sagt er. Ich sehe ihn an einem Ast über dem Fluss hängen, seine Silhouette scharf gezeichnet gegen den Himmel. Sein schläfriger Atem warm an meinem Ohr. Wenn du gehen musst, werde ich dich begleiten. In seiner wonnigen Umarmung sind meine Ängste vergessen.
Immer mehr Erinnerungen tauchen auf. Sie hört zu und starrt dabei auf die Körnung des Steins. Darin sind wir alle verewigt, die Gottheit, der Sterbliche und der Junge, der beides war.
Die Sonne versinkt im Meer und wirft ihre Farben über das Wasser. In der schleichend heraufziehenden Dämmerung sitzt sie da und schweigt. Ihr Gesicht ist so makellos wie an jenem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, als wollte sie etwas für sich behalten.
Ich habe ihr alles über uns gesagt und nichts zurückbehalten.
Die Sonne geht im Westen unter und der Tag neigt sich dem Ende.
»Ich hätte keinen Gott aus ihm machen können«, sagt sie mit brüchiger Stimme.
Aber das hast du doch.
Sie schweigt lange, sitzt einfach nur da und blickt ins sterbende Licht.
»Ich habe es getan«, sagt sie schließlich, was ich nicht sofort verstehe. Doch dann sehe ich den Grabstein und ihr Zutun. ACHILL, steht darauf zu lesen. Und daneben: PATROKLOS.
»Geh«, fordert sie mich auf. »Er wartet auf dich.«
Zwei Schatten streben in hoffnungsloser, schwerer Düsternis aufeinander zu. Ihre Hände berühren sich, und wie aus hundert zerbrochenen goldenen Urnen flutet helles Sonnenlicht.
Danksagung
Um dieses Buch zu schreiben, habe ich mich auf eine zehnjährige Reise begeben und zum Glück bin ich mehr göttlichen Wesen begegnet als bösen Zyklopen. Es ist unmöglich an dieser Stelle jedem zu danken, der mich in den vergangenen Jahren ermutigt hat – dazu bräuchte es ein zweites Buch –, aber ich möchte mich bei einigen wahrhaft göttlichen Menschen bedanken.
Besonders danke ich meinen ersten Lesern, die enthusiastisch und liebevoll reagierten, auch wenn es nicht so viele Gründe für Enthusiasmus gab: Carolyn Bell, Sarah Furlow und Michael Bourret. Ich möchte auch meiner fantastischen Patentante und guten Fee Barbara Thornbrough danken, die mich stets angespornt hat, ebenso der Familie Drake, die mich ermutigt hat und ein hervorragender Ansprechpartner in allen möglichen Angelegenheiten war. Meine tief empfundene Dankbarkeit gilt meinen Lehrern, besonders Diane Dubois, Susan Melvoin, Kristin Jaffe und Judith Williams; und meinen leidenschaftlichen und großartigen Studenten, Shakespearianern und Latein-Studenten gleichermaßen, die mich so viel mehr gelehrt haben, als ich sie jemals lehren könnte.