Er zog die Stirn in Falten und war so still wie ein alarmiertes Tier, das den Geräuschen seines Jägers lauschte. Unwillkürlich hielt ich die Luft an.
Plötzlich entspannte sich sein Gesicht wieder. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
»Komm mit«, sagte er.
»Wohin?« Ich war argwöhnisch. Womöglich sollte ich nun dafür bestraft werden, dass ich ihm zu lügen vorgeschlagen hatte.
»Zu meinem Leierunterricht. Damit ich, wie du sagst, nicht lügen muss. Anschließend sprechen wir mit meinem Vater.«
»Jetzt?«
»Ja. Warum nicht?« Er sah mich fragend an. Warum nicht?
Als ich aufstand, um ihm zu folgen, taten mir die Beine weh, weil ich so lange auf dem kalten Steinboden gehockt hatte. In meiner Brust kribbelte etwas, das ich nicht benennen konnte. Furcht und Hoffnung, beides zugleich.
Wortlos gingen wir durch die langen Flure und gelangten schließlich in einen kleinen Raum, in dem sich nur eine Truhe und ein paar Stühle befanden. Achill deutete auf einen davon. Es war ein mit Leder überspannter Holzrahmen auf Beinen – ein Schemel, wie ihn fahrende Musikanten mit sich führten.
Er öffnete die Truhe, holte eine Leier daraus hervor und reichte sie mir.
»Ich kann darauf nicht spielen«, sagte ich.
Wieder krauste er die Stirn. »Hast du es nie versucht?«
Seltsamerweise verspürte ich den Wunsch, ihn nicht zu enttäuschen. »Mein Vater mag keine Musik.«
»Na und? Er ist doch nicht hier.«
Ich nahm das Instrument entgegen. Es war dasjenige, mit dem ich ihn am Tag meiner Ankunft gesehen hatte. Ich ließ die Finger über die Saiten streichen und hörte ein dumpfes Summen. Achill holte eine zweite Leier aus der Truhe hervor und setzte sich neben mich.
Er platzierte sie auf seine Knie. Die Holzarme waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert und vergoldet. Es war das Instrument meiner Mutter, das mir mein Vater als Teil des Entgelts für meine Aufnahme an Peleus’ Hof mitgegeben hatte.
Achill zupfte an einer Saite und ließ einen wunderschönen Ton erklingen, warm und anhaltend. Meine Mutter war früher immer auf ihrem Stuhl ganz nah an die Musikanten herangerückt, so nah, dass mein Vater das Gesicht verzog und die Sklaven untereinander tuschelten. Ich erinnerte mich plötzlich an den dunklen Glanz ihrer Augen, wenn sie auf den Händen des Musikers ruhten und zu dürsten schienen.
Achill zupfte an einer anderen Saite, die einen tieferen Klang hervorbrachte. Dann griff er nach einem Schlüssel und stimmte sie nach.
Das ist die Leier meiner Mutter, hätte ich fast gesagt. Die Worte lagen mir schon auf der Zunge, und dahinter drängten sich weitere vor. Sie gehört mir. Doch ich schwieg. Was hätte er wohl auf eine solche Äußerung geantwortet? Das Instrument war nun in seinem Besitz.
Meine Kehle war trocken. Ich schluckte. »Sie ist schön.«
»Mein Vater hat sie mir gegeben«, erklärte er arglos, und nur weil er mit dem Instrument so sanft und schonend umging, konnte ich meine Wut beherrschen.
Er bemerkte nichts davon. »Du kannst sie mal halten, wenn du willst.«
Ich wusste, wie sie sich anfühlte, so glatt und vertraut, als wäre sie ein Teil von mir.
»Nein«, stieß ich unter Schmerzen in der Brust hervor. Ich werde in seinem Beisein nicht in Tränen ausbrechen.
Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment kam der Lehrer zur Tür herein, ein Mann unbestimmten Alters. Er hatte wie jeder Musiker verhornte Fingerspitzen und trug seine eigene Leier bei sich. Sie war aus dunklem Walnussholz geschnitzt.
»Wer ist das?«, fragte er. Seine Stimme war rau und laut, nicht die eines Sängers.
»Patroklos«, antwortete Achill. »Er kann noch nicht auf der Leier spielen, will’s aber lernen.«
»Nicht auf diesem Instrument.« Er langte nach dem Instrument auf meinem Schoß, doch ich hielt unwillkürlich daran fest. Es war nicht so schön wie die Leier meiner Mutter, aber immerhin das Instrument eines Prinzen. Ich wollte es nicht hergeben.
Das musste ich auch nicht. Achill griff nach seinem Handgelenk. »Doch, auf diesem Instrument, wenn er möchte.«
Der Mann war verärgert, sagte aber nichts. Achill gab seine Hand frei, worauf er sich auf einem Schemel niederließ.
»Fang an«, sagte er.
Achill nickte und beugte sich über seine Leier. Ich hatte nicht die Zeit, mich über sein Eingreifen zu wundern. Er strich über die Saiten, und alle meine Gedanken waren wie ausgewechselt. Der Klang war so rein und süß wie Wasser, hell wie Limonen. Solche Musik hatte ich nie zuvor gehört. Sie wärmte wie ein Feuer und war von einer Beschaffenheit wie poliertes Elfenbein, wühlte auf und besänftigte zugleich. Ein paar Strähnen fielen ihm über die Augen, während er spielte. Sie waren so fein wie die Leiersaiten und schimmerten.
Dann hielt er inne, strich die Haare zurück und wandte sich mir zu.
»Du bist dran.«
Ich schüttelte den Kopf, der mir schwirrte. Es war mir unmöglich, jetzt zu spielen. Viel lieber wollte ich ihm zuhören. »Spiel weiter«, sagte ich.
Achill ließ wieder die Saiten erklingen. Diesmal sang er mit klarer, heller Stimme. Er warf den Kopf in den Nacken zurück und entblößte seinen Hals und die geschmeidige, dunkel getönte Haut. Ein kleines Lächeln deutete sich am linken Mundwinkel an. Unwillkürlich beugte ich mich näher zu ihm hin.
Als er schließlich zu spielen aufhörte, fühlte sich meine Brust seltsam hohl an. Ich sah, wie er aufstand und die beiden Instrumente zurück in die Truhe legte. Er verabschiedete den Lehrer und brachte ihn zur Tür. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder bei mir war und bemerkte, dass er auf mich wartete.
»Wir gehen jetzt zu meinem Vater.«
Ich brachte kein Wort hervor, nickte bloß und folgte ihm durch das Labyrinth der Gänge.
Fünftes Kapitel
Achill blieb in der mit Bronze beschlagenen Doppeltür zum Audienzsaal des Königs stehen. »Warte hier«, sagte er.
Peleus saß am anderen Ende des Raums auf einem Stuhl mit hoher Lehne. Er schien sich mit einem älteren Mann zu beraten, den ich schon einmal mit ihm zusammen gesehen hatte. Die Feuerstelle verströmte einen dichten Rauch, es war warm und stickig.
An den Wänden hingen dunkel gefärbte Wandteppiche und alte Waffen, die von Sklaven regelmäßig auf Hochglanz gebracht wurden. Achill ging vor den Füßen seines Vaters auf die Knie. »Vater, ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten.«
Peleus zog die Brauen in die Stirn. »Sprich.« Ich stand noch in der Tür und glaubte erkennen zu können, dass er finster dreinblickte. Mir wurde angst und bange. Wahrscheinlich fühlte er sich gestört. Achill hatte nicht einmal angeklopft.
»Ich habe Patroklos von seinen Übungen abgehalten.« Mein Name klang fremd aus seinem Mund. Ich erkannte ihn kaum wieder.
Der alte König kniff die Brauen zusammen. »Wen?«
»Menoitiades«, antwortete Achill. Menoitios’ Sohn.
»Ah.« Peleus richtete seinen Blick auf mich, und ich musste an mich halten, um Ruhe zu bewahren. »Den Jungen also, den der Waffenmeister züchtigen will.«
»Ja. Aber es war nicht seine Schuld. Ich habe vergessen zu sagen, dass ich ihn als Gefährten wünsche.« Therápon war das Wort, das er gebrauchte. Damit wurde der Waffenbruder eines Prinzen bezeichnet. Im Krieg war er dessen Leibwächter, im Frieden sein engster Berater. Er genoss höchstes Ansehen. Das war auch der Grund, warum die Jungen Peleus’ Sohn umgarnten und ihn zu beeindrucken versuchten. Sie hofften, als therápon auserwählt zu werden.
Die Augen des Königs verengten sich. »Komm näher, Patroklos.«
Der Teppich, über den ich ging, war weich. Ein Stück hinter Achill kniete ich nieder. Ich spürte den Blick des Königs auf mich gerichtet.