»Klar«, sagte Ben spöttisch. »Und das seit zweitausend Jahren, wie?«
»Und warum nicht?« gab Mike zurück. »Vielleicht haben wir uns getäuscht! Möglicherweise ist das hier gar kein Grab. Wer weiß - vielleicht dienen all diese komplizierten Maschinen dort draußen nur dem einen Zweck, sie am Leben zu erhalten!«
In das spöttische Grinsen auf Bens Zügen mischte sich Überraschung, dann ein sehr nachdenklicher Ausdruck. »Du meinst ...«
»Daß dein Vergleich mit Dornröschen gar nicht einmal so falsch ist«, sagte Mike. Er wandte sich an Trautman. »Wir müssen sie mitnehmen!«
Trautman stand schweigend da und blickte das bewegungslos daliegende Mädchen an, dann drehte er sich langsam herum, sah Mike an und fragte: »Warum?«
»Nun, weil ... weil...« Mike wußte keine Antwort.
»Aber wir können sie doch nicht einfach hierlassen«, sagte nun auch Ben. »Wenn sie wirklich lebt, dann -« »Wenn sie noch lebt«, unterbrach ihn Trautman. »Erstens ist es nur eine Theorie. Zweitens wüßten wir gar nicht, wie wir sie aufwecken sollten.« Er deutete auf Mike. »Nehmen wir an, Mikes Theorie wäre richtig, und diese ganze Maschinerie dort draußen wäre tatsächlich nur dazu da, dieses Mädchen am Leben zu erhalten - und das seit Jahrhunderten, wenn nicht noch länger! -, glaubst du vielleicht, dann könnte man einfach einen Schalter umlegen und sie damit aufwecken?« Er schüttelte den Kopf. »Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß wir das Mädchen damit umbringen. Und selbst, wenn es uns gelänge - bist du sicher, daß sie das überhaupt will?«
Mike sah ihn betroffen an. »Wie ... meinen Sie das?«
»So, wie ich es sage«, antwortete Trautman. »Wenn du recht hast und all diese Maschinen tatsächlich nur diesem einen Zweck dienen, dann haben sie sie bestimmt nicht aus einer Laune heraus gebaut, sondern mit einem guten Grund. Wer gibt uns das Recht, das Mädchen einfach aufzuwecken?«
»Winterfeld wird sich diese Frage nicht stellen, wenn er sie findet«, grollte Ben.
»Da bin ich nicht einmal sicher«, antwortete Trautman. »Außerdem werden wir alles tun, damit er sie nicht findet.« Er hob die Hand zu einer besänftigenden Geste. »Im Moment können wir sowieso nichts machen. Selbst wenn wir sie mitnehmen wollten - zu allererst einmal müssen wir die NAUTILUS wieder flottbekommen. Oder sollen wir sie aufwecken, nur damit sie vielleicht zusammen mit uns untergeht?«
Mike widersprach nicht mehr. Trautman hatte recht - aber das änderte nichts daran, daß ihn der Gedanke, das Mädchen einfach hierzulassen, sehr traurig machte.
»Und Astaroth?« fragte er.
»Der Kater?« Trautman zuckte die Achseln. »Wir reden darüber, sobald wir die NAUTILUS repariert haben - und über alles andere auch. Einverstanden?«
Was blieb ihnen schon anderes übrig? Mit einem letzten bedauernden Blick auf das schlafende Mädchen verließ Mike die Kammer und ging zusammen mit Ben und Trautman in den Lagerraum, in dem die Preßluftflaschen untergebracht waren.
Die nächsten beiden Stunden waren so mit Arbeit angefüllt, daß Mike das geheimnisvolle Mädchen und seine Aufregung beinahe vergessen hatte. In dem Lagerraum befanden sich an die fünfzig der großen, schweren Stahlflaschen, und Trautman schätzte, daß sie mindestens die Hälfte davon brauchen würden, um die NAUTILUS wieder vom Meeresboden zu heben. Allein der Gedanke, zwanzig oder gar dreißig der Stahlflaschen bis zur NAUTILUS hinüberschleppen zu sollen, ließ es Mike heiß und kalt den Rücken herunterlaufen. Aber nun zeigte sich, daß Trautman eine gute Idee gehabt hatte.
Mit vereinten Kräften rollten sie ein halbes Dutzend Flaschen zur Luftschleuse hin, bevor sie wieder in ihre Anzüge stiegen und die Kuppel verließen. Der Kater folgte ihnen dabei auf Schritt und Tritt, so daß sie ihn am Schluß fast gewaltsam zurückdrängen mußten, damit er ihnen nicht in die Schleusenkammer folgte, wo er zweifellos ertrunken wäre.
Draußen vor der Schleuse rollte Trautman fünf der Flaschen auf das mitgebrachte Netz und opferte den Inhalt der sechsten dafür, die Luftsäcke aufzublasen, die sie an den vier Ecken des Netzes befestigt hatten. Wie Bojen stiegen sie in die Höhe und hoben das Netz samt seiner Last an, so daß sie das Gewicht der Preßluftflaschen kaum noch fühlten, als sie sich schließlich auf den Rückweg zur NAUTILUS machten.
Auf diese Weise transportierten sie insgesamt zwanzig Flaschen zum U-Boot, was natürlich mehrere Stunden in Anspruch nahm und trotz allem eine sehr kraftraubende Arbeit war. Die Proteste der anderen, nicht mit zur Kuppel gehen zu dürfen, verstummten allmählich, als sie sahen, wie sich Ben und Mike damit abmühten, die schweren Flaschen in die Tauchkammer der NAUTILUS zu hieven.
Als sie schließlich zum fünften Mal in die Kuppel zurückkehrten, erklärte Trautman, daß es jetzt genug sei. Noch diese eine Ladung, und sie hatten ausreichend Preßluft auf die NAUTILUS hinübergeschafft, um sie zur Not sogar mit dem eingedrungenen Wasser an Bord an die Wasseroberfläche zu bekommen.
Mike ging noch einmal in die Kammer mit dem schlafenden Mädchen zurück, um sie ein letztes Mal zu betrachten. Er sah ein, daß Trautman vollkommen recht hatte - sie konnten das Mädchen nicht mitnehmen, und vermutlich durften sie es auch gar nicht. Aber der Gedanke, sie einfach zurückzulassen, bedrückte ihn sehr. Er hatte dieses Mädchen gestern zum ersten Mal gesehen, und trotzdem erfüllte ihn ihre Nähe mit einem so vertrauten Gefühl, als kenne er sie schon sein Leben lang. Der Kater saß die ganze Zeit über neben ihm, betrachtete ihn aus seinem bernsteingelben Auge und schien dann und wann zustimmend zu nicken, als verstehe und teile er seine Trauer.
»Wir sollten jetzt gehen«, hörte Mike Trautman sagen. Ben und er waren unbemerkt hinter Mike getreten. Beide sahen sehr erschöpft aus, und ganz plötzlich fühlte sich auch Mike müde und ausgelaugt.
»Wir schlafen uns gründlich aus und beraten morgen früh, was zu tun ist.« Trautman fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, und Mike erinnerte sich daran, wie müde Trautman schon am Morgen ausgesehen hatte.
Mike wollte antworten, aber in diesem Moment ging ein dröhnender, lang nachhallender Schlag durch die Kuppel, und alle fuhren erschrocken zusammen.
»Das ist die Schleuse«, stieß Ben hervor. »Irgend jemand kommt!«
Einen Moment lang sahen sie sich betroffen an, dann fuhren sie wie auf ein gemeinsames Kommando hin herum und begaben sich in die große Halle zurück, aber sie kamen zu spät. Vor ihren Augen begann sich die stählerne Tür der Schleusenkammer zu öffnen, und sie fanden gerade noch Zeit, sich hinter einem großen Maschinenblock zu verstecken, als vier Personen hintereinander aus der Schleuse traten. Sie trugen Taucheranzüge, die aus Gummimaterial bestanden und die Mike schon einmal gesehen hatte.
»Deutsche«, zischte Ben leise. »Das sind Winterfelds Leute.«
Die Schleuse wurde wieder geschlossen und öffnete sich kurz darauf erneut. Drei weitere Taucher traten daraus hervor. Die Männer nahmen ihre Helme ab und holten unter den Anzügen Pistolen hervor. Mißtrauisch, aber auch mit unübersehbarem Staunen begannen sie die Halle zu durchsuchen, wobei sie dem Versteck der beiden Jungen und Trautmans mehr als einmal bedrohlich nahe kamen.
Schließlich blieben zwei der Soldaten an der Schleuse stehen, während die anderen auf die Tür zugingen, hinter der sich die Kammer mit dem Glassarg befand. »Keine Chance, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen«, flüsterte Ben. »Wir müssen sie ablenken.« Er sah Trautman an. »Haben Sie Ihre Pistole mit?«
»Bist du verrückt?« fragte Trautman. »Sie sind zu siebt - und wir haben eine einzige Pistole. Wir hätten keine Chance.« Er runzelte besorgt die Stirn. »Wir müssen sie irgendwie ablenken. Wenn es uns gelingt, in die Schleuse zu kommen, können wir wenigstens die NAUTILUS warnen.«
»Falls sie nicht draußen auf uns warten«, sagte Ben. »Oder die NAUTILUS bereits gekapert haben.«