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»Nemo sei Dank«, flüsterte André, »wir werden die Sonne noch einmal wiedersehen.«

Trautman lächelte flüchtig. »Das wird aber noch eine Weile dauern«, sagte er. »Wir werden mindestens vierundzwanzig Stunden benötigen, ehe wir die Wasseroberfläche erreichen.«

Plötzlich begannen alle durcheinanderzureden. Anstelle von Todesangst und mühsam unterdrückter Panik machte sich eine ebenso heftige Euphorie unter den Jungen breit, so daß Trautman schließlich mit energischer Stimme für Ruhe sorgen mußte.

Auch Mike war zutiefst erleichtert. Er fühlte sich immer noch verwirrt und hatte nach wie vor keine Antwort auf die Frage, woher er von dem passenden Ventil gewußt hatte, aber das hatte nun Zeit. Wichtig war jetzt nur, daß sie gerettet waren. Er wandte sich wieder dem Fenster zu und sah hinaus. Trautman hantierte an seinen Hebeln, und die NAUTILUS gehorchte zum ersten Mal seit Stunden wieder den Befehlen des Ruders. Langsam schwang das gewaltige Unterseeboot herum und nahm Fahrt auf. Und für die Dauer von einer Sekunde erblickte Mike jenseits des Fensters, hinter der seit Anbeginn der Zeit währenden Dunkelheit etwas, was ihm den Atem stocken ließ.

Sechshundert Meter unter ihnen, sechstausend Meter unter dem Meeresspiegel, aber so deutlich zu erkennen, daß er fast glaubte, nur die Hand ausstrecken zu brauchen, um sie zu berühren, erhoben sich die Türme einer gewaltigen, hellerleuchteten Stadt.

Als Mike seine Kabine betrat, fand er Astaroth zusammengerollt auf seinem Bett vor. Der Kater sah gelangweilt auf, als Mike sich neben ihn auf die Bettkante sinken ließ, begann jedoch sofort wie eine kleine Nähmaschine zu schnurren, als er ihm das Fell zwischen den Ohren kraulte. Mike war unendlich müde. Jetzt, als die unmittelbare Gefahr vorüber war, spürte er mit doppelter Wucht, welche Anstrengungen der zurückliegende Tag von ihm verlangt hatte. Seine Hände begannen zu zittern, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich auch nur so weit wieder in der Gewalt hatte, daß er aus Hemd und Hose schlüpfen und unter die Bettdecke kriechen konnte. Hinter seiner Stirn führten die Gedanken einen wirren Tanz auf. Er hatte keinem der anderen von seiner Entdeckung berichtet, denn er hatte wahrlich keine Lust, sich den Spott der anderen zuzuziehen, wenn er von einer Stadt auf dem Meeresgrund berichtete, die noch dazu er als einziger gesehen hatte.

Mike begann nun auch unter seiner Decke zu schlottern. Es war noch immer sehr kalt in der NAUTILUS, aber das war nicht der eigentliche Grund - das Fieber vom vergangenen Tag schien zurückzukehren. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und seine Stirn fühlte sich heiß an. Astaroth schien zu spüren, daß es ihm nicht gutging, denn der Kater kam schnurrend über die Bettdecke herangekrochen, rieb seinen Kopf an Mikes heißer Wange und kroch dann zu ihm unter die Decke. Die Berührung seines weichen Felles tat ungemein gut, und auch wenn es nur ein Tier war, Mike hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, sondern einen Freund zu haben. So dauerte es nicht einmal eine Minute, bis er trotz allem wieder eingeschlafen war.

Und seinen Fiebertraum aus der vergangenen Nacht fortsetzte. Wieder befand er sich im Körper eines vierbeinigen, schnellen Räubers, der auf der Suche nach Beute durch einen bizarren Dschungel streifte, wie es ihn nirgendwo auf der Welt gab. Wieder unterschied sich sein Denken völlig von dem eines Menschen, war mehr ein Fühlen, ein instinktives Handeln als Entscheiden, und statt all der Sorgen und Gedanken eines Menschen waren in seinem Kopf nur mehr Jagdfieber, Hunger und eine angeborene Vorsicht vor anderen, noch gefährlicheren Räubern.

Dann aber änderte sich etwas, aus dem Traum wurde ein Alptraum. Etwas geschah mit ihm. Der Jäger wurde zum Gejagten, er hatte seltsame Visionen von großen, lauten, plumpen Wesen, die ihn hetzten, ihn verfolgten und unbarmherzig in die Enge trieben, bis es keinen Ausweg mehr gab, obwohl er viel schneller, geschickter und klüger als jeder einzelne von ihnen war. Er war plötzlich gefangen und konnte sich nicht mehr rühren. Wesen waren um ihn herum, die Mike als Menschen erkannte, ohne daß es ihm möglich war, dieses Erkennen auf das Geschöpf zu übertragen, in dessen Leib er steckte. Allen voran war ein uralter, weißhaariger Mann mit einem Gesicht, das Mike als gütig und wissend erschienen wäre, seinen tierischen Traumkörper jedoch schier in Panik versetzte. Er war in ein helles, mit sonderbar beunruhigend anmutenden Mustern besticktes Gewand gekleidet, und er tat irgend etwas mit ihm. Auch war er nicht mehr in seiner gewohnten, grünen Dschungelwelt, sondern in einer kalten, aus blitzendem Metall und hartem Stein, aus hellem Licht und tausend fremdartigen, angstmachenden Dingen bestehenden Umgebung.

Und dann - wieder hatten sie etwas mit ihm getan, was er nicht verstand, aber das ihm Schmerzen und noch viel größere Angst bereitete - änderte sich etwas. Nicht in seiner Umgebung. Nicht mit seinem Körper; mit seinem Geist. Aus dem Tier wurde ein denkendes Wesen. Mike war noch immer im Körper des vierbeinigen Jägers gefangen, aber plötzlich waren all die vertrauten Muster wieder da, plötzlich war da mehr als Instinkte und angeborene Verhaltensweisen, mehr als ein Denken, das gerade ausreichte, eine Beute zu erkennen und zu jagen. Es war, als wäre das Wesen, dessen Gast er im Traum war, auf eine höhere Ebene des Seins gehoben worden.

Wieder erschien der alte Mann vor ihm. Er begann mit ihm zu reden, und nun zum ersten Mal waren die Geräusche, die er machte, keine unverständlichen, furchteinflößenden Laute mehr, sondern Worte, und er verstand sie, wenn auch nur ihrer Bedeutung nach, nicht ihrem Sinn.

»Mir bleibt nicht genug Zeit, dich in alles einzuweisen«, erklärte der alte Mann. »Unsere Welt ist dem Untergang geweiht, doch einer von uns wird überleben. Deine Aufgabe wird es von nun an sein, über die letzte Prinzessin des Alten Geschlechts zu wachen. Dein Schrecken wird bald vergehen, und du wirst erkennen, mit welcher Macht wir dich ausgestattet haben, damit du deiner Aufgabe gerecht werden kannst. Du wirst jetzt nicht alles verstehen, aber du wirst dich erinnern und nach und nach alles begreifen.«

Zumindest damit hatte der alte Mann recht. Er redete lange und schnell, und kaum etwas von seinen Worten war verständlich oder schien gar einen Sinn zu ergeben. Und doch vergaß er nichts davon.

An diesem Punkt wachte Mike für einen Moment auf. Er fand sich fiebernd und geschüttelt von einander abwechselnder Kälte und Hitze unter seiner Bettdecke in der dunklen Kabine, und Astaroth hatte sich so eng an ihn gekuschelt, wie es nur ging, so daß es ihm für einen Moment fast so vorkam, als wären sie zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Und noch bevor er diesen Gedanken weiter verfolgen und vielleicht erkennen konnte, welch tiefere Wahrheit in diesem Vergleich steckte, sank er erneut in Schlaf, und sein Traum, er setzte sich fort.

Er war nicht mehr in der Gewalt des alten Mannes. Der Alte, von dem er nun wußte, daß er der letzte eines einst mächtigen Geschlechts von Magiern gewesen war, war gegangen, und er war allein mit anderen Menschen, jedoch nicht mehr gefangen. Trotzdem versuchte er nicht zu fliehen und in seine angestammte Heimat zurückzukehren. Um ihn herum waren Bilder unvorstellbarer Zerstörung. Der Himmel hatte sich verdunkelt, Feuer und Schwefel regneten auf die Erde, und vom Meere her rannten turmhohe Wellenberge gegen die Küste. Ein unglaublicher Sturm war losgebrochen, gegen den er sich nur noch mit Mühe halten konnte, und er hörte ein beständiges Grollen, Rumpeln und Bersten, als bräche die Erde unter seinen Füßen zusammen.

An diesem Punkt zerbrach die bis dahin durchgehende Handlung in tausend einzelne Bilder der Zerstörung, des Chaos, die den Untergang einer ganzen Welt und das Ende eines ganzen Volkes zeigten. Und irgendwann, nach Ewigkeiten, wie es Mike schien, sank sein gepeinigter Geist erschöpft auf eine tiefere Ebene des Schlafes herab, die keinen Platz mehr für Träume bot.