»Du bist also Mike«, begann der Fremde. Er hatte eine sehr angenehme, kräftige Stimme, die so gar nicht zu seinem greisenhaften Äußeren passen wollte; ebensowenig wie der Ausdruck in seinen von unzähligen winzigen Fältchen umgebenen Augen, die nicht die eines alten Mannes zu sein schienen. Mike las eine Kraft und Entschlossenheit darin, auf die so mancher viel jüngere Mann stolz gewesen wäre.
Langsam stand er auf und nickte. »Und Sie sind...«
»Das ist Professor Arronax«, erklärte Trautman. »Ich habe dir von ihm erzählt.«
Mike war nicht sehr überrascht. Arronax sah genau so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Und der kurze Blick, den er mit Trautman tauschte, machte Mike ohne jedes Wort klar, daß die beiden Männer bereits über ihn gesprochen hatten.
»Ich glaube, ich hätte dich auch so erkannt«, sagte er. »Du siehst deinem Vater sehr ähnlich, weißt du das?« Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie gesehen.« Ein flüchtiger Ausdruck von Bedauern erschien in Arronax' Augen, als er nickte. »Ja, Trautman hat mir davon erzählt. Dein Vater hat dich schon früh wegbringen lassen, damit du in Sicherheit bist.«
»Wie Sie sehen, hat es nicht viel genutzt«, murmelte Mike, und Ben fügte boshaft hinzu: »Jedenfalls hat er nicht viel vom Schneid seines Vaters abbekommen.«
Mike verbiß sich die zornige Antwort, die ihm auf den Lippen lag, und auch Arronax sagte nichts, doch der Blick, den er dem jungen Engländer zuwarf, zeigte Mike, daß Trautman auch über Ben mit ihm geredet hatte.
Trautman und Arronax setzten sich an den Tisch, und nach kurzem Zögern folgten ihnen Singh und Ben und schließlich auch Mike. Astaroth blieb auf dem Bett liegen und tat so, als schliefe er, aber Mike entging keineswegs, daß er den weißhaarigen Fremden unter dem fast geschlossenen Augenlid heraus aufmerksam beobachtete. »Trautman hat mir erzählt, was ihr auf dem Meeresgrund gefunden habt«, begann Arronax. »Du mußt mir von allem berichten, was du gesehen hast. Es kann sehr wichtig sein.«
Mike deutete verwundert auf Trautman. »Aber hat er Ihnen denn nicht -«
»Vier Augen sehen mehr als zwei«, unterbrach ihn Arronax mit einem gutmütigen Lächeln, und Ben konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Sechs.«
»Ach ja, du warst ja auch in der Kuppel«, sagte Arronax. »Du hast die Prinzessin ebenfalls gesehen.«
»Prinzessin?« Mike setzte sich stocksteif auf. »Woher wissen Sie, daß sie eine Prinzessin ist?«
»Weil du es gesagt hast«, antwortete Trautman an Arronax' Stelle.
Mike blickte sekundenlang die beiden alten Männer verunsichert an, doch dann begann er gehorsam zu erzählen, was er in der Unterseekuppel gesehen und erlebt hatte. Dann und wann fügte Ben ein Detail hinzu, und Arronax unterbrach sie immer wieder mit gezielten Fragen, wobei er sich für jede noch so winzige Kleinigkeit zu interessieren schien.
»Unglaublich«, sagte er schließlich, mehr an Trautman als an die beiden Jungen gewandt. »Diese Kuppel ist das, wonach ich mein Leben lang gesucht habe. Wenn es stimmt, was ihr berichtet, dann ... dann habt ihr etwas entdeckt, wogegen sich die große Pyramide von Gizeh wie eine Sandburg ausmacht.«
»Es stimmt«, erklärte Ben in beleidigtem Tonfall. »Warum sollten wir Ihnen etwas vormachen? Fragen Sie Trautman, wenn Sie uns nicht glauben.«
Arronax hob besänftigend die Hand. »Ich glaube euch ja«, sagte er. »Es ist nur so...« Er suchte einen Moment nach den richtigen Worten und fuhr mit veränderter, wehmütiger Stimme fort: »Ich habe zwanzig Jahre lang davon geträumt, das zu sehen, was ihr entdeckt habt. Und jetzt, wo es endlich gefunden worden ist, ist es zu spät. Statt der Wissenschaft und der ganzen Menschheit werden die Geheimnisse der Kuppel jetzt nur einem einzigen Mann dienen.«
Mike sah verwundert zu Trautman hin. »Haben Sie es ihm denn nicht gesagt?«
Trautman wich seinem Blick aus, und auf Arronax' Gesicht machte sich ein deutlicher Schrecken breit. »Was gesagt?« fragte er.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte Trautman - und Mike spürte, daß das nicht stimmte.
»Wozu sind Sie noch nicht gekommen?« fragte Arronax scharf.
»Sie existiert nicht mehr«, sagte Ben etwas spöttisch. »Das Ding ist in die Luft geflogen, nachdem die Deutschen die Kleine herausgeholt haben.« Er machte eine Bewegung mit beiden Händen, um die Explosion zu verdeutlichen.
Arronax wurde blaß. »Das ... das ist nicht wahr!« keuchte er.
»Doch«, sagte Mike, so ruhig, wie er konnte. »Winterfelds Soldaten haben den Sarg mit dem Mädchen herausgeholt. Und kurz danach ist die Unterseekuppel explodiert. Die Explosion hätte um ein Haar auch die NAUTILUS vernichtet.«
»O nein«, stöhnte Arronax. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Ausdruck so abgrundtiefer Enttäuschung aus, daß Mike sich beherrschen mußte, um ihm nicht tröstend die Hand auf die Schulter zu legen.
Von alldem schien Ben nicht viel mitzubekommen, denn er fügte mit einer Geste auf Mike hinzu: »Unser kleiner Prinz hier meint, es wäre eine Automatik gewesen, die die Kuppel gesprengt hat, nachdem man die Prinzessin« - er betonte das Wort so, daß Mike ihm am liebsten dafür mit der Faust auf die Nase geschlagen hätte - »herausgeschafft hat.«
Arronax sah Mike an. »Ein kluger Gedanke«, sagte er. »Das könnte sogar stimmen. Wenn es die Prinzessin war.«
»Sie wissen nicht nur von mir, wer sie ist, nicht wahr?« fragte Mike.
Arronax zögerte. Er wich seinem Blick aus. Seine Hände strichen in einer unbewußten Geste über die Tischkante. »Ich bin nicht sicher«, sagte er. »Aber wie kann man überhaupt sicher sein, bei etwas, was so lange zurückliegt?« Wieder schwieg er einige Augenblick, dann gab er sich einen sichtbaren Ruck. »Habt ihr in der Kuppel sonst noch etwas gefunden?« fragte er. »War noch irgend etwas anderes Außergewöhnliches dort? Irgendein anderes ... Geschöpf?«
Mike schwieg. Ben sagte: »Nur Dornröschen. Und dieses schwarze Mistvieh da.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Astaroth, der träge das Auge öffnete und wie zur Antwort so ausgiebig gähnte, daß man fast seine Schwanzspitze sehen konnte.
»Dieser Kater stammt aus der Kuppel?« vergewisserte sich Arronax.
Mike und Trautman nickten gleichzeitig.
Arronax saß da und starrte den Kater an, und Astaroth erwiderte seinen Blick mit der kühlen Herablassung, zu der nur Katzen fähig sind. Dann stand Arronax auf, ging langsam zum Bett hinüber und besah sich den Kater sehr aufmerksam aus unmittelbarer Nähe. Zwei- oder dreimal streckte er auch die Hand aus, wagte es aber diesmal nicht, Astaroth wirklich zu berühren. Ein sehr nachdenklicher Ausdruck lag auf Arronax' Gesicht, als er zu den anderen zurückkehrte. »Eine Katze?« flüsterte er. »Eine ganz normale Katze?« Mike hätte ihm sagen können, daß Astaroth alles war, nur keine ganz normale Katze, aber er schwieg.
»Was ist daran so seltsam?« fragte Trautman. »Ich meine - auch wir haben uns gewundert, wie das Tier dort hinuntergekommen ist und wovon es gelebt haben mag. Aber es ist trotzdem ein ganz normaler Kater - auch wenn er die eine oder andere Unart hat.«
Astaroth gähnte, stand auf, reckte sich ausgiebig und kam dann mit gemessenen Schritten auf Mike zu. Mit einem eleganten Satz sprang er auf seinen Schoß hinauf und rollte sich dort wieder zusammen, um weiterzuschlafen. Arronax ließ ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen.
»Es ist kaum zu glauben, und doch ...« begann er, sprach aber nicht zu Ende, sondern schüttelte nur mehrmals heftig den Kopf.
»Was ist schwer zu glauben?« wollte Mike wissen.
Arronax sah in an. »Es ist nur eine Legende«, sagte er. »Und doch habe ich mein Leben lang nach dieser Legende gesucht. Trautman hat dir sicher erzählt, daß ich während der letzten zwanzig Jahre Forschungen über das versunkene Atlantis angestellt habe.«