»Die Prinzessin!« rief Mike. Diesmal war es nicht die Stimme des Katers, die er vernahm. Vielmehr spürte er dessen Angst, die an Panik grenzende Furcht, die für einen Moment vom Geist des Tieres Besitz ergriffen hatte, und für einen ebenso kurzen Moment drohten diese Gefühle auch ihn zu überwältigen. Er begann am ganzen Leib zu zittern.
»Die Prinzessin!« rief er. »Etwas ist mit Serena geschehen!«
»Wovon sprichst du?« fragte Trautman.
»Serena!« rief Mike noch einmal. »Die Prinzessin! Sie ist aufgewacht!«
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich der Kater soweit wieder beruhigt hatte, daß Mike es wagte, sich ihm zu nähern und ihn anzufassen. Astaroth hatte so lange versucht, die Metalltür aufzubekommen, bis seine Pfoten blutig geworden waren und seine Kräfte versagten. Die schon fast verheilte Wunde an seinem Hinterlauf war wieder aufgebrochen, und sein Atem ging schwer. Und viel mehr noch, als er es sah, spürte Mike die Erschöpfung der Tieres. Astaroth lag wie leblos auf seinem Schoß.
Danach war Mike nicht mehr umhingekommen, Trautman und den anderen zu erzählen, was er wirklich über den Meerkater wußte. Bens Kommentar war ganz so ausgefallen, wie Astaroth selbst prophezeit hatte. Singh sagte wie üblich gar nichts, aber Trautman sah ihn vorwurfsvoll an, nachdem er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, und sagte schließlich leise. »Du hättest es mir sagen müssen.«
»Hätten Sie mir geglaubt?« gab Mike ebenso leise zurück.
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman. »Vermutlich nicht - wenigstens am Anfang. Später, nach der Sache mit dem Ventil ...«
»Und was hätte es geändert?« fragte Mike.
»Das ist also der berühmte, unsterbliche Wächter der Prinzessin«, sagte Ben. Er blickte hämisch auf den Kater herab. »Ein famoser Wächter, der nicht einmal die Tür aufbekommt.«
Mike schaute ihn scharf an, dann wandte er den Kopf und sah einen Moment auf den Stuhl herab, der genau in dem Augenblick zerbrochen war, als Ben sich am lautesten über den Kater lustig gemacht hatte. Ben folgte seinem Blick, und Mike konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie er leicht zusammenfuhr.
»Du kannst wirklich mit diesem Tier reden?« erkundigte sich Arronax.
Mike schüttelte den Kopf. »Reden ist nicht das richtige Wort«, sagte er. »Ich ... Irgendwie spüre ich in mir, was er sagt.«
»Sicher«, fügte Ben spöttisch hinzu. »Und du als einziger, nicht wahr?«
Mike blieb ernst. »Es muß irgend etwas damit zu tun haben, daß er mich gebissen hat«, sagte er.
»Mich hat er gekratzt«, sagte Ben giftig. »Und ich höre rein gar nichts. Das heißt ...« Er runzelte die Stirn, überlegte eine Sekunde und fuhr in nachdenklichem Tonfall fort. »Letzte Nacht habe ich mir eingebildet, meine Nachttischlampe hätte zu mir gesprochen. Vielleicht war es gar keine Einbildung.«
»Bestimmt nicht«, pflichtete ihm Mike bei. »Du solltest abends jetzt genauer hinhören. Und dir vor allem angewöhnen, in deinen Schuhen zu schlafen.«
»Schluß jetzt, ihr beiden«, sagte Trautman streng. Er deutete auf den Kater. »Wenn du dich wirklich mit diesem Tier verständigen kannst, müssen wir das ausnutzen. Vielleicht verschafft es uns einen entscheidenden Vorteil.«
»Das Tier ist Serenas Wächter, vergessen Sie das nicht«, wandte Arronax ein. »Es wird nichts tun, was die Prinzessin irgendwie in Gefahr bringt.«
Vor der Tür wurden Schritte laut. Sie hörten das scharrende Geräusch des Riegels, und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und zwei bewaffnete Soldaten traten ein. Hinter diesen erkannte Mike die Silhouetten zweier weiterer, die mit schußbereiten Waffen auf dem Korridor standen. Winterfeld mochte sie wie Gäste behandeln, aber er beging nicht den Fehler, sie zu unterschätzen.
Mike spürte, wie Astaroth sich auf seinem Schoß zu bewegen begann, und hielt den Kater instinktiv fester. »Bitte bleib ruhig«, flüsterte er. »Wir wollen Serena genauso befreien wie du, aber wir müssen abwarten. Wir haben nur diese eine Chance.«
Astaroth antwortete auch jetzt nicht, aber Mike glaubte zu spüren, daß das Tier seine Worte verstanden hatte. »Du da!« Einer der beiden Soldaten deutete auf Mike. »Mitkommen. Kapitän Winterfeld will dich sehen.«
Mike stand auf und wollte den Kater auf den Stuhl legen, doch Astaroth fauchte so drohend, daß er sein Vorhaben nicht ausführte. Den Kater wie ein schlafendes Baby im Arm, trat er zwischen die beiden Soldaten und dann auf den Gang hinaus. Der Mann, der ihn zum Mitkommen aufgefordert hatte, musterte das Tier finster, schüttelte dann den Kopf und grinste abfällig. Mike schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Astaroth nichts Unüberlegtes tat. Winterfeld hatte sicher Befehl gegeben, ihn und die anderen mit Respekt zu behandeln.
Kurz darauf erreichten sie Kapitän Winterfelds Kabine. Die beiden Soldaten traten nicht mit ein, sondern blieben draußen vor der Tür stehen. Winterfeld saß an seinem mit Papieren und Karten übersäten Schreibtisch und sah Mike freundlich entgegen, als dieser eintrat.
»Setz dich«, forderte er ihn auf, erst dann schien er den Kater zu bemerken, den Mike auf den Armen trug. »Ich hoffe, dein Schoßtierchen ist inzwischen stubenrein geworden«, sagte er und fügte ein wenig besorgt hinzu: »Was ist mit ihm? Er sieht krank aus.«
»Er ist ein ziemlicher Faulpelz, er läßt sich die ganze Zeit herumschleppen«, antwortete Mike, und seine Stimme zitterte etwas.
»So sind Katzen nun einmal«, sagte Winterfeld. »Ich selbst habe drei Stück zu Hause - zwei Perser und eine normale Hauskatze. Aber keine ist auch nur annähernd so groß wie dein Tier. Ein richtiges Prachtstück.«
Mike lauschte in sich hinein. Aber Astaroths lautlose Stimme blieb stumm. Von der vorlauten Art des Katers war im Moment nichts geblieben. Und Mike glaubte darüber hinaus auch zu spüren, daß eine Veränderung mit dem Tier vor sich gegangen war.
»Nun«, sagte Winterfeld, nachdem Mike sich gesetzt hatte, »ich hoffe, du hattest inzwischen Gelegenheit, über unser Gespräch von vorhin nachzudenken.«
»Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu bereden hätten«, antwortete Mike. Der Kater bewegte sich auf seinen Armen. Irgend etwas geschah mit ihm. Es war keine sichtbare Veränderung, aber Mike fühlte sie sehr deutlich.
Winterfeld seufzte. Seine Finger strichen unbewußt über einen Stoß Karten. »Du enttäuscht mich, Michael«, sagte er. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich erwarte nicht, daß du mich wie einen Freund behandelst, aber du bist eigentlich alt genug, um zu wissen, wann du aufhören solltest. Ihr habt verloren, sieh das ein. Wir haben gekämpft, und ihr habt euch tapfer gewehrt, aber nun ist es vorbei. Im Grunde habe ich alles, was ich wollte. Meine Leute sind bereits dabei, die NAUTILUS zu untersuchen. Es wird nicht lange dauern, bis sie gelernt haben, das Schiff zu steuern. Ich könnte dich und die anderen irgendwo an Land setzen und meiner Wege gehen, wenn ich das wollte.«
»Ja, oder uns gleich umbringen, wie?« Mike erschrak über seine eigenen Worte. Er wußte selbst nicht, warum er das gesagt hatte - Winterfeld war sicher ihr Feind, aber kein Mörder. Aber er spürte einen Zorn und eine Entschlossenheit in sich, die ihn schaudern ließen. Irgendwie spürte er auch, daß es gar nicht seine Gefühle waren, die er empfand, aber sie waren einfach zu stark, um sich dagegen zu wehren.
»Du weißt, daß ich das nicht täte«, erwiderte Winterfeld. Er klang ehrlich verletzt. »Aber ich könnte euch auf einer Insel absetzen, wo es Jahre dauern kann, bis euch jemand findet. Doch das möchte ich nicht. Im Gegenteil, ich hoffe sogar, daß wir unsere Meinungsverschiedenheiten beilegen und zusammenarbeiten. Deine Hilfe könnte für mich sehr wichtig sein. Und für sehr viele andere Menschen auch.«