»Hilfe? Wobei?« fragte Mike böse. »Wollen wir gemeinsam noch ein paar friedliche Forschungsschiffe überfallen?«
»Das war eine bedauerliche, aber notwendige Maßnahme«, sagte Winterfeld mit einer Stimme, in der nicht eine Spur von Bedauern zu hören war. »Ich habe nicht vor, als Pirat die Weltmeere unsicher zu machen - wie zum Beispiel dein Vater und Trautman getan haben. Doch was sollte ich tun? Ihr wart mir entkommen, und somit war Professor Arronax meine letzte Möglichkeit, und - ich gestehe es - die Gelegenheit war zu verlockend. Vor allem«, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, »da ich auf diese Weise gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.«
»Wie meinen Sie das?«
Winterfeld lachte. »Habt ihr die Geschichte von dem Expeditionsteilnehmer wirklich geglaubt, der mir im letzten Moment entkommen ist?« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Solche Fehler unterlaufen mir nicht, mein junger Freund. Das war einer meiner eigenen Männer, der den Auftrag hatte, eine entsprechende Meldung an die Presse zu lancieren. Mir war klar, daß Trautman sofort hierherkommen würde, wenn er davon erführe. Ich habe die ganze Zeit auf euch gewartet. Mit Erfolg, wie sich gezeigt hat.«
»Und was haben Sie jetzt mit Arronax und seinen Leuten vor?« fragte Mike.
Winterfeld machte eine beruhigende Handbewegung.
»Es geht ihnen gut, keine Sorge. Arronax hast du ja bereits kennengelernt, und auch den anderen wird nichts geschehen. Sie befinden sich an Bord der LEOPOLD, und du hast mein Wort, daß ihnen kein Haar gekrümmt wird.«
»Und das Mädchen?« fragte Mike. Astaroth bewegte sich unruhig in seinen Armen.
»Ein weiterer Grund, aus dem wir zusammenarbeiten sollten«, sagte Winterfeld. »Durch einen unglückseligen Umstand wurde die Kuppel leider zerstört - weißt du vielleicht etwas darüber?«
Im ersten Moment irritierte Mike der lauernde Ton in Winterfelds Stimme, doch dann begriff er. »Nein«, antwortete er. »Jedenfalls haben wir nichts damit zu tun, wenn Sie das meinen.«
Winterfeld wirkte nicht ganz überzeugt. Wahrscheinlich, dachte Mike, glaubte er, daß sie die Kuppel gesprengt hatten, damit sie seinen Leuten nicht in die Hände fiel. »Was ist mit dem Mädchen?« fragte er.
»Sie befindet sich an Bord«, antwortete Winterfeld.
»Keine Sorge - sie ist unverletzt. Was weißt du über sie?«
»Kann ich sie sehen?« wollte Mike wissen, ohne Winterfelds Frage zu beantworten.
Winterfeld zögerte, nickte aber schließlich. »Warum nicht? Allerdings fürchte ich, wird es dir nicht viel nutzen.« Er hob beruhigend die Hand, als er sah, daß Mike erschrocken zusammenfuhr - obwohl der wirkliche Grund dieses Zusammenzuckens der war, daß Astaroth bei diesen Worten seine Krallen so tief durch Mikes Hemd in seine Haut grub, daß er vor Schmerz beinahe aufgestöhnt hätte. Der Kater spielte weiter den Schlafenden, doch Mike spürte, daß er sich längst in ein Energiebündel verwandelt hatte, das nur darauf wartete, das Theaterspiel endlich aufzugeben. »Ihr ist nichts geschehen«, fuhr Winterfeld fort. »Ganz im Gegenteil, es ist uns gelungen, sie aufzuwecken. Aber sie ist ... sagen wir, noch ein wenig benommen.« Mike fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Astaroth zitterte auf seinen Armen. Er spürte, daß jeder Muskel im Leib des Katers schier zum Zerreißen angespannt war. »Ich möchte mich nur davon überzeugen, daß es ihr gutgeht«, sagte Mike.
»Also gut«, sagte Winterfeld und stand auf. »Wenn das nötig ist, um dir zu beweisen, daß ich es ernst meine mit meinem Vorschlag, soll es mir recht sein. Komm mit.«
Er kam um den Schreibtisch herum, machte eine auffordernde Handbewegung zu Mike, ihm zu folgen, und öffnete die Tür. Die beiden Posten, die Mike hierher begleitet hatten, standen noch immer draußen auf dem Gang. Respektvoll traten sie einen Schritt zur Seite, als Winterfeld an ihnen vorüberging, folgten ihm und Mike aber mit zwei Schritten Abstand.
Winterfeld führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Gängen und Korridoren. Dann und wann begegneten ihnen andere Besatzungsmitglieder, die respektvoll beiseitetraten, um ihrem Kommandanten Platz zu machen, aber im allgemeinen schien das Schiff wie ausgestorben zu sein. Doch Mike wurde rasch klar, daß das nicht etwa daran lag, daß Winterfeld so wenige Männer an Bord hatte, sondern vielmehr an der enormen Größe der LEOPOLD. Früher, als er sich noch mit Winterfelds Sohn ein Zimmer im Internat geteilt hatte, hatten sie oft über die LEOPOLD gesprochen, und Paul hatte ihm erzählt, daß sie eines der größten Schiffe der deutschen Kriegsmarine war. Mike hatte dies geglaubt, sich aber niemals wirklich Gedanken darüber gemacht, was das eigentlich bedeutete - doch jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Selbst die NAUTILUS mit ihren fast hundert Metern mußte neben dem Schlachtschiff wie ein kleines Boot wirken.
Der Gedanke erinnerte ihn an eine Frage, die ihm die ganze Zeit bereits auf der Seele lag. »Wo ist Paul?« fragte er. »Ist er auch an Bord?«
Winterfeld lachte. »O nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Wofür hältst du mich? Ich würde meinen Sohn niemals einer derartigen Gefahr aussetzen. Er befindet sich an einem sicheren Ort.«
»Und wo ist dieser sichere Ort?« fragte Mike.
Wieder lachte Winterfeld und schüttelte den Kopf. »Du gibst nicht auf, wie? Aber ich denke, wir sollten es mit den Vertrauensbeweisen am Anfang vielleicht noch nicht übertreiben. Später wirst du deinen Freund sicher wiedersehen.«
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Vor einer eisernen Tür standen zwei Wächter, zwar bewaffnet wie fast alle an Bord, trotzdem aber deutlich gelangweilt. Als sie Winterfeld sahen, versuchten sie hastig, eine stramme Haltung einzunehmen und ihre Uniformen zu glätten. Winterfeld beachtete sie allerdings gar nicht, sondern öffnete die Tür und gebot Mike mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Die beiden Soldaten, die mit ihnen gekommen waren, traten hinter ihnen ein.
Wie Mike auf den ersten Blick erkannte, handelte es sich um die Krankenstation der LEOPOLD. An der Wand neben der Tür stand eine ganze Reihe weißer, sauber bezogener Betten, es gab eine Anzahl medizinischer Instrumente und mehrere Glasschränke voller Fläschchen und Behälter, die wohl Medikamente enthielten. Ein stechender Karbolgeruch hing in der Luft, und ein älterer Mann in einem weißen Kittel, wahrscheinlich der Arzt, sah Winterfeld entgegen und grüßte ihn knapp, ohne sich zu einem militärischen Gruß aufraffen zu können.
Serena lag in dem Bett neben der Tür, und obwohl sie noch immer das einfache weiße Gewand trug und fast in der gleichen Haltung in den Kissen lag, in der Mike sie in dem gläsernen Sarg gefunden hatte, war etwas mit ihr vorgegangen.
Ihre Augen waren nun geöffnet, doch sie waren blicklos und stumpf und schienen die Decke über ihrem Kopf gar nicht zu sehen, und ihre Haut war noch immer von weißer, fast durchscheinender Farbe. Sie lag vollkommen bewegungslos da, das Haar wie einen goldfarbenen Schleier um die Schultern ausgebreitet, und sie atmete so flach, daß man es kaum bemerkte, und doch hatte sie sich verändert.
Als Mike sie in dem gläsernen Sarg gesehen hatte, da war sie wenig mehr als eine Tote gewesen, eine schlanke Mädchengestalt mit einem wunderschönen Gesicht, aber nicht mehr. Ebensogut hätte sie eine Statue sein können, die von der Hand eines begnadeten Künstlers erschaffen worden war. Jetzt aber war in dieser Statue Leben. Man konnte es kaum sehen, dafür jedoch um so deutlicher spüren, und es war, als hätte dieser göttliche Funke eine Veränderung unter der Oberfläche des Sichtbaren bewirkt, die sie zu etwas ganz anderem machte. Ganz plötzlich war ihre Schönheit nicht mehr die einer Puppe, sondern etwas Lebendiges, Warmes, zu dem sich Mike sofort hingezogen fühlte.
Aber da war noch mehr. Obwohl er das Mädchen jetzt erst zum dritten Mal im Leben sah, fühlte er etwas Vertrautes in sich, als kenne er sie schon seit sehr langer Zeit. Vielleicht hatte es mit Astaroth zu tun. Vielleicht waren es die Gefühle des Katers, die er spürte und im ersten Moment für seine eigenen hielt, doch selbst wenn, spielte das keine Rolle - Mike mußte nur einen einzigen Blick auf dieses bleiche, schmale Mädchengesicht werfen, um zu wissen, daß er Serena nötigenfalls mit dem eigenen Leben verteidigen würde, sollte ihr jemand etwas zuleide tun wollen.