Auf diese Weise vergingen sicherlich zwei Stunden, ehe es endlich Arronax war, der die Diskussion zu einem Ende brachte, indem er leise, aber sehr eindringlich sagte: »Aber das alles ändert doch nichts.«
Einen Moment lang herrschte verwirrtes Schweigen, dann fragte André: »Woran?«
»An der Tatsache, daß wir hier gefangen sind und Kapitän Winterfeld - ob nun freundlich oder nicht - mit diesem Mädchen den Schlüssel zu unvorstellbarer Macht in den Händen hält.« Er sah sich einen Moment in der Runde um, als erwarte er Widerspruch oder auch Zustimmung. Als keines von beidem erfolgte, fuhr er fort: »Ich stimme mit Mike in zumindest einem Punkt überein: Auch ich habe in den vergangenen Wochen Zeit und Gelegenheit genug gehabt, um mit Winterfeld zu reden und mir ein Bild zu machen. Am Anfang hielt ich ihn ebenfalls nur für einen Verbrecher: bestenfalls einen Wahnsinnigen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, was das angeht. Und außerdem denke ich, daß Winterfeld einen ganz konkreten Plan hat.«
»Was für einen Plan?« fragte Trautman scharf.
Arronax zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich ebensowenig wie Sie. Aber Winterfeld ist kein Mann, der irgend etwas ohne triftigen Grund tut. Vielleicht ist es euch allen noch nicht bewußt geworden, aber mit dem, was er getan hat, hat er sich gewissermaßen selbst für vogelfrei erklärt. Der Krieg wird es ihm etwas leichter machen, weil die Welt im Moment anderes zu tun hat, als einen Deserteur zu jagen, aber über kurz oder lang wird er erwischt werden. Und er weiß das. Winterfeld ist kein Dummkopf.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Singh.
»Ich denke, Winterfeld spielt einfach va banque«, antwortete Arronax. »Er hat alles auf eine Karte gesetzt - und das hätte er schwerlich getan, hätte er sich nicht eine gute Chance ausgerechnet, das Spiel zu gewinnen. Er ist hinter dem Vermächtnis der Atlanter her - und mit Serena und der NAUTILUS hat er gute Aussichten, es auch zu bekommen.«
»Aber die Kuppel ist zerstört!« wandte Chris ein.
Arronax lächelte. »Ich fürchte, das wird nicht viel nützen«, sagte er. »Ich habe Dutzende von Hinweisen auf andere Hinterlassenschaften des untergegangenen Volkes gefunden - und du hast es ja selbst gehört: Winterfeld besitzt meine Aufzeichnungen. Wenn ihm das Mädchen auch nur ein paar Hinweise gibt, ist es ein Leichtes für ihn, die Reste von Atlantis zu finden.«
»Und wir haben ihm auch noch das passende Schiff dazu geliefert«, sagte Trautman düster.
Arronax seufzte. »Ja. Sie haben die Kuppel gesehen, Trautman. Und Sie wissen, wozu die NAUTILUS in der Lage ist. Wenn Winterfeld mehr von der Hinterlassenschaft der Atlanter findet ... das ist unvorstellbar. Er könnte im wahrsten Sinne des Wortes unbesiegbar werden. Wer weiß - vielleicht könnte er sich tatsächlich zum Herrscher über die ganze Welt aufschwingen. Ich glaube nicht, daß er das will, aber -«
»Und damit haben Sie auch vollkommen recht, Professor«, unterbrach ihn eine Stimme von der Tür her.
Alle fuhren erschrocken herum und sahen den Schlachtschiffkommandanten an, der vollkommen unbemerkt die Kabine betreten hatte und offensichtlich schon eine ganze Weile zuhörte.
»Ich bin mir der Gefahr, der ich mich selbst und meine Männer aussetze, durchaus bewußt, mein lieber Professor. Doch der Preis, um den es hier geht, ist den Einsatz mehr als wert.« Er kam näher, wobei er die Tür hinter sich offenstehen ließ, so daß sie alle die beiden bewaffneten Marinesoldaten sehen konnten, die draußen auf dem Korridor Aufstellung genommen hatten, und fuhr in lockerem Tonfall fort, »Er ist vermutlich höher, als selbst Sie sich vorstellen können - und ihr anderen auch. Um so mehr schmerzt es mich, daß sie mich noch immer für einen gemeinen Piraten zu halten scheinen.«
Bei diesen Worten maß er Ben mit einem bezeichnenden Blick, den der junge Engländer trotzig und anscheinend ohne eine Spur von Furcht erwiderte.
»Wenn das nicht so ist, dann erzählen Sie uns doch, was Sie wirklich vorhaben«, sagte Trautman. »Vielleicht gelingt es Ihnen ja, uns zu überzeugen - wer weiß?«
»Wer weiß?« bestätigte Winterfeld lächelnd. »Ich täte es gern, aber jetzt ist weder die Zeit noch die richtige Gelegenheit dazu.«
»Was spricht dagegen?«
»Der Umstand, daß ich nicht weiß, ob ich Ihnen und Ihren jungen Freunden trauen kann oder nicht«, antwortete Winterfeld mit großem Ernst. »Und damit wären wir gleich beim Grund meines Hierseins.« Er deutete auf Mike. »Michael wird Ihnen ja erzählt haben, welche Pläne ich mit Ihnen beziehungsweise mit Professor Arronax und seinen Begleitern hege.«
»Haben Sie eine einsame Insel gefunden, auf der Sie uns absetzen können?« grollte Ben.
»Oh, gleich ein Dutzend, was das angeht«, erwiderte Winterfeld. »Und ich versichere dir, mein junger Freund, einige davon sind wirklich einsam; einsam genug jedenfalls für die nächsten zehn Jahre.« Dann fuhr er in verändertem Ton fort:
»Wie die Dinge nach der Vernichtung der Kuppel liegen, gibt es keinen Grund mehr für die LEOPOLD, länger hierzubleiben. Wir werden noch im Laufe des Abends Fahrt aufnehmen.«
»Und was geht das uns an?« fragte Ben.
»Brauchen Sie noch Galeerensklaven für die Ruder?« fügte Juan hinzu.
Winterfeld schenkte ihnen keine Beachtung. »Es geht um die NAUTILUS«, sagte er. »Ich will ehrlich zu euch sein: Ich habe ein paar fähige Ingenieure an Bord, und es ist keine Frage, daß sie über kurz oder lang lernen werden, mit dem Schiff umzugehen - aber ich fürchte, es wird eher länger dauern.«
»Und jetzt wollen Sie, daß wir Ihre Leute unterweisen?« fragte Mike fassungslos.
Winterfeld nickte. »Es macht keinen Unterschied - für euch«, sagte er. »Und auch nicht für uns. Wir verlieren nur ein wenig Zeit, kostbare Zeit, wie ich gerne zugebe. Trotzdem spielt es eigentlich keine Rolle. Der Unterschied für euch wäre, daß ich eure Bereitschaft zur Hilfe nicht vergessen würde.«
»Garantieren Sie uns einen schmerzlosen Tod?« fragte Ben hämisch.
Diesmal sahen sie alle das kurze, ärgerliche Flackern in Winterfelds Augen. Aber er beherrschte sich auch jetzt noch. »Ich garantiere euch allen die beste Behandlung, die ich euch unter diesen Umständen bieten kann«, sagte er ernst. »Egal, wie eure Entscheidung ausfällt, ob ihr zu meinen Verbündeten werdet oder es vorzieht, mich weiter als Feind zu betrachten, werde ich -«
Draußen auf dem Korridor wurden polternde Schritte laut, und einen Augenblick später stürmte ein Marinesoldat in die Kabine und blieb schweratmend vor Winterfeld stehen. »Herr Kapitän, Sie müssen in die Krankenstation kommen!« sagte er, ohne irgendeine nähere Erklärung abzugeben.
Und Winterfeld schien zu spüren, wie ernst es mit dem Mann war, denn er zögerte nicht und wandte sich zur Tür. Aber der Soldat hielt ihn noch einmal zurück, indem er auf Mike deutete:
»Der Junge sollte besser auch mitkommen«, sagte er. Winterfeld war überrascht - aber Mike erschrak, und jetzt erkannte er den Mann, der da so atemlos hereingestürzt war: Es war einer der beiden Soldaten, die mit ihnen bei Serena gewesen waren.
Es bedurfte keines weiteren Befehles von Winterfeld, damit er ihm und dem Soldaten folgte. Hintereinander stürmten sie aus der Kabine.
Obwohl sich die Krankenstation nahezu am anderen Ende des gewaltigen Schiffes befand, benötigten sie nicht einmal fünf Minuten, um den Korridor zur Krankenstation zu erreichen, der voller Soldaten war. Sie hörten die aufgeregten Rufe und durcheinanderschreienden Stimmen schon von weitem; nicht einmal als Winterfeld die Treppe hinunterpolterte, hörte der Lärm völlig auf; und bei der eisernen Disziplin, die an Bord der LEOPOLD herrschte, bedeutete das eine ganze Menge!