»Was ist mit Serena?« brüllte er, so laut er konnte.
Seine Worte wurden vom Sturm davongetragen wie die Singhs zuvor, und Mike war plötzlich nicht einmal mehr sicher, daß sie die andere Seite des Schiffes überhaupt erreichen würden. Das Toben des Sturmes nahm immer mehr an Heftigkeit zu, und hinter der schwarzen Wolkenmauer glaubte Mike nun tatsächlich etwas zu sehen, was sich dort zusammenballte und sich dem Schiff näherte. Doch bevor er noch einen zweiten Blick dorthin werfen konnte, prallte er gegen Singh, der abrupt stehengeblieben war.
In den Decksaufbauten vor ihnen war eine Tür aufgeflogen. Eine Gruppe bewaffneter Männer - und darunter auch Kapitän Winterfeld - stürmte ins Freie. Hinter ihnen trat Serena auf das Deck heraus.
Aber wie hatte sie sich verändert!
Aus dem bleichen, zarten Mädchen schien ein Todesengel geworden zu sein. Ihre Gestalt war von einem unheimlichen, bläulichweiß flackernden Licht umgeben, das sie wie ein Mantel aus purer Energie umfloß. Ihr Haar und das weiße Kleid wurden noch immer von einem unsichtbaren Sturmwind gepeitscht, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck solch unbändigen Zornes, daß Mike bei ihrem Anblick aufstöhnte. Er konnte die Aura vernichtender Kraft um das Mädchen herum regelrecht fühlen.
Die Männer stürmten davon, aber irgend etwas folgte ihnen. Einer nach dem anderen wurden sie gepackt und zu Boden oder gegen die Wände geschleudert, und mehr als einer von ihnen hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben und seine Flucht fortzusetzen. Es waren kampferprobte Soldaten, aber dieser Feind ließ sich nicht mit Mut oder der Kraft ihrer Waffen besiegen. Es war, als hätte Serenas Zorn Gestalt in dem Sturm angenommen, der über die LEOPOLD und ihre Besatzung hereingebrochen war.
Trotzdem verspürte Mike keine Angst um sich oder die anderen, sondern um Serena selbst. Und plötzlich tat er etwas Überraschendes - mit einer raschen Bewegung sprang er an Singh vorbei, lief im Zickzack zwischen Trautman und den anderen Jungen hindurch und näherte sich dem Mädchen.
Er kam ihr nicht sehr weit entgegen, da fühlte er sich von der gleichen, unsichtbaren Gewalt wie all diese Männer hier gepackt und mit fürchterlicher Wucht zu Boden geschleudert. Hilflos rutschte er über das Deck, riß sich auf dem harten Metall Hände und Knie auf und prallte gegen eine Gestalt, die unmittelbar hinter ihm zu Boden gefallen war. Erst als er sich benommen aufzurichten versuchte und eine Hand auf der Schulter fühlte, erkannte er, daß es Winterfeld war.
»Bist du verrückt geworden?« fuhr ihn Winterfeld an. »Willst du, daß sie dich umbringt?«
Mike machte sich hastig los und versuchte erneut, auf Serena zuzulaufen, aber diesmal hielt ihn Winterfeld mit eiserner Hand zurück. »Lassen Sie mich los!« keuchte Mike. »Ich kann sie aufhalten! Sie wird auf mich hören!«
»Fünfzig meiner Männer haben sie nicht aufhalten können!« Winterfeld schrie, um das Heulen des Sturmes zu übertönen. Trotzdem waren seine Worte kaum zu verstehen. »Und du willst mit ihr reden? Mach dich nicht lächerlich!«
Aus den tobenden Regenschleiern kam eine Gestalt auf sie zu. Es war Singh. Winterfeld erkannte ihn im selben Moment, in dem der Sikh sah, wer Mike gepackt hielt, und obwohl rings um sie herum die Welt in Stücke brach, schienen die beiden Männer wild entschlossen, sich aufeinanderzustürzen. Und vielleicht hätten sie es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment etwas geschehen, was sie selbst den Höllenstürm, die Todesgefahr und Serena für eine Sekunde vergessen ließ.
Eine besonders heftige Sturmböe riß die Wolkenfront auseinander, und sie sahen, was dahinter herankam ... »O mein Gott!« flüsterte Winterfeld. Seine Augen wurden groß, und sein Gesicht verlor jegliche Farbe, und Mike spürte, wie sein Herzschlag stockte.
Es war eine Welle.
Aber es war nicht eine gewöhnliche Welle. Es war eine kompakte, glitzernde Wand aus Wasser, fünfzig, wenn nicht hundert Meter hoch und so breit, daß sie von einem Horizont zum anderen zu reichen schien. Und sich näherte sich dem Schiff mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Ein tiefes, ungeheuer machtvolles Dröhnen und Grollen mischte sich in das Brüllen des Sturmes, und sogar das Gewitter hielt für einen Moment inne, als fürchteten sich selbst die Naturgewalten vor den Kräften, die das Mädchen entfesselt hatte. »Festhalten!« brüllte Winterfeld, und sie fanden gerade noch Zeit, es zu tun, dann war die Welle heran und traf das Schiff.
Mike hatte mit einem vernichtenden Schlag gerechnet, der die LEOPOLD einfach in Stücke riß oder vielleicht auch zur Gänze unter die Wasseroberfläche drückte, aber ganz im Gegenteiclass="underline" Mike fühlte sich plötzlich leicht, und es war, als ob der Boden unter ihm wegsackte, statt sich aufzubäumen und ihn abzuschütteln wie ein bockendes Pferd seinen Reiter.
Erst dann begriff er, daß die gigantische Woge das ganze Schiff gepackt und in die Höhe gehoben hatte!
Er fand nicht einmal die Zeit, den Schrecken darüber wirklich zu spüren, da stürzte die LEOPOLD wie ein Berg aus Stahl ins Wasser zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich ihr Deck unter der Wasseroberfläche, aber noch ehe das Meer es überspülen konnte, da wurde das Schiff schon wieder in die Höhe gerissen und auf die Seite gedrückt, so schnell und so weit, daß aus dem Deck nahezu eine senkrechte Wand wurde. Mike schrie in Todesangst auf, während er auf die Reling zuschlitterte. Rings um ihn herum flogen Trümmer und schreiende Menschen durch die Luft, und die kochende Wasseroberfläche schien ihm regelrecht entgegenzuspringen.
Im allerletzten Moment richtete sich das Schiff wieder auf. Mike rutschte noch ein Stück weiter, prallte gegen irgend etwas Hartes, Großes, das seinen Sturz endgültig abbremste, und blieb eine Sekunde mit geschlossenen Augen und wild klopfendem Herzen liegen, fest davon überzeugt, daß der Tod nun unausweichlich war.
Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, bot sich ihm ein Anblick des Chaos.
Die ungeheure Erschütterung hatte nicht nur jeden Mann auf dem Deck von den Füßen gerissen, sondern auch enorme Zerstörungen angerichtet. Die Flammen im Heck der LEOPOLD waren erloschen, doch einer der großen Geschütztürme war abgerissen und verschwunden, und die Kommandobrücke stand plötzlich schräg da, als wäre sie vom Fußtritt eines zornigen Riesen getroffen worden. Etliche der Männer, die zusammen mit Winterfeld nach oben gekommen waren, hatte das Wasser über Bord gespült, viele lagen stöhnend am Boden, und einige regten sich nicht mehr.
Mike fuhr herum und suchte nach den anderen. Er entdeckte Juan und Chris ganz in der Nähe, beide schreckensbleich und zitternd aneinandergeklammert, aber offensichtlich unverletzt. Und zu seiner großen Erleichterung gewahrte er jetzt auch Ben, André und schließlich sogar Trautman, Arronax und den Sikh. Hastig sprang Mike auf und eilte zu Trautman, der sich in diesem Moment ebenfalls erhob; benommen, aber bis auf ein paar kleine Kratzer und Schrammen ebenfalls unversehrt.
Als er ihn erreichte, sah er, wie sich Winterfeld kaum einen Meter entfernt stöhnend auf die Knie erhob - und Trautman etwas völlig Überraschendes tat. Er trat zu Winterfeld, ergriff ihn am Arm und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck vollends auf die Füße.
»Großer Gott!« stammelte Winterfeld. »Sie ... sie vernichtet das Schiff! Sie wird uns alle töten!« Verzweifelt sah er sich nach Serena um, und als Mike in die gleiche Richtung schaute, entdeckte er das Mädchen an genau der Stelle, an der sie vor der Katastrophe gestanden hatte. Der Zorn auf ihrem Gesicht loderte noch immer so heiß wie zuvor, und Mike mußte nur einen einzigen Blick in ihre Augen werfen, um zu wissen, daß es noch immer nicht vorbei war. Winterfeld hatte recht. Serena würde nicht aufhören, ehe dieses Schiff und jede Seele an Bord vernichtet war.
»Bringen Sie sich in Sicherheit!« sagte Winterfeld plötzlich. »Die NAUTILUS ist fahrbereit! Meine Ingenieure haben die Schäden repariert. Nehmen Sie die Jungen und Arronax' Leute an Bord und tauchen Sie! Eine zweite Woge hält die LEOPOLD nicht aus.«