Sie aufzuhalten? erwiderte Astaroth. Ich wüßte keine Macht auf dieser Welt, die das könnte. Sie wird noch sehr viel mehr zerstören als nur dieses Schiff. Bring mich nach oben, rasch!
Mike sparte sich jede weitere Frage. Er rannte, wie er nie zuvor in seinem Leben gerannt war, durch den zerstörten Korridor zurück zur Treppe, wobei er den Kater wie ein krankes Kind an sich preßte. Astaroth wimmerte manchmal leise, ertrug die grobe Behandlung aber ansonsten, ohne sich zu wehren, und auch seine Gedankenstimme schwieg.
Das Schiff tanzte so ungestüm auf den Wellen, daß Mike große Mühe hatte, die Treppe hinaufzukommen. Mehr stolpernd als gehend wankte er auf das Deck hinaus, fiel nur wenige Schritte hinter Serena auf die Knie und warf einen Blick nach Norden.
Die Welle war fast heran. Hatte er sie vorher mit einer Wand aus Wasser verglichen, so schien das, was sich jetzt der LEOPOLD näherte, ein massives Gebirge zu sein. Millionen und aber Millionen Tonnen von Wasser, die sich brüllend und schaumgekrönt auf das Schiff zuwälzten. Winterfeld und seine Männer waren in heller Panik zur gegenüberliegenden Reling zurückgewichen. Einige machten gerade Anstalten, ins Wasser zu springen, während andere sich zusammengekauert hatten und die Arme über dem Kopf zusammenschlugen. Plötzlich wußte Mike, daß auch die NAUTILUS der Vernichtung nicht mehr entgehen konnte, ob unter Wasser oder nicht. Nichts konnte diesen Gewalten widerstehen.
»Serena, nicht!« schrie Mike verzweifelt. Er versuchte aufzustehen, glitt auf dem nassen Metall wieder aus und fiel der Länge nach hin. Der Kater stürzte schwer auf das Deck und stieß einen winselnden Laut aus. Serena fuhr herum und starrte Mike aus brennenden Augen an. Er spürte, wie hinter diesen Augen etwas erwachte, eine Gewalt, die noch mächtiger und gnadenloser war als die unsichtbaren Mächte, die dem Meer befahlen und die sich über ihnen zusammenballten, um sie zu zerschmettern.
»Serena, nicht!« keuchte Mike. »Bitte hör auf! Astaroth lebt! Sieh doch! Der Kater ist am Leben!« Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Woge heranraste. Ihr Brüllen übertönte seine Worte und jeden anderen Lärm. Die Wasserwand war vielleicht noch eine Meile vom Schiff entfernt, dann eine halbe, eine viertel. Der Ozean selbst schien nach oben zu kippen, und gleich würde er das Schiff erreichen und einfach zermalmen. Wo gerade noch der Himmel gewesen war, war plötzlich schimmerndes, kochendes Wasser. Mike riß in einer vollkommen sinnlosen Bewegung die Arme über den Kopf, krümmte sich -
und die Wasserwand brach in sich zusammen. Mit einem Tosen und Krachen wie von hundert Wasserfällen, die gleichzeitig eine kilometerhohe Felsklippe herunterstürzten, brach das Wassergebirge auseinander, noch immer entsetzlich nahe bei der LEOPOLD, aber nicht mehr über ihr. Wie beim ersten Mal wurde das Schiff in die Höhe gehoben und ein Stück davon getragen, aber diesmal setzte die Woge es beinahe sanft wieder ab.
Die Erschütterung reichte trotzdem, jedermann an Deck von den Füßen zu reißen, und für einen Moment war Mike blind und rang keuchend nach Luft, als eisige Gischt das Schiff überspülte. Aber es war nur mehr eine normale Woge, die keinen wirklichen Schaden mehr anrichtete. Die LEOPOLD tanzte noch immer auf dem Wasser wie ein Korken, nicht wie ein Schlachtschiff, das Zehntausende von Tonnen wog. Aber die eigentliche Gefahr war vorüber.
Das unheimliche Feuer in Serenas Augen war erloschen. Sie saß auf dem Boden, den Kater auf dem Schoß, der sich trotz seiner Verletzung zu ihr hingeschleppt hatte, und ihre Augen waren nun wieder so glanzlos und stumpf wie zuvor. Ihre rechte Hand lag zwischen den Ohren des Katers und kraulte langsam sein Fell. Aber die Gefahr war vorbei. Der Dämon, der in Serena erwacht war, hatte sich wieder zurückgezogen. Und ganz plötzlich begriff Mike, daß seine Vermutung richtig gewesen war: Der Kater schützte nicht das Mädchen vor der Welt. Sondern die Welt vor dem Mädchen.
Das hat verdammt lange gedauert, bis du das kapiert hast, sagte Astaroth. Seine Gedankenstimme klang schon wieder ein wenig spöttisch. Offensichtlich erholte er sich genauso schnell wieder von seiner Verwundung wie das erste Mal.
Mike kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn er gewahrte plötzlich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung, und als er aufsah, blickte er direkt in Winterfelds Gesicht. Hinter ihm kamen Trautman und Arronax heran, beide begleitet von Winterfelds Soldaten. Aber auf den Gesichtern dieser Männer war keine Feindseligkeit mehr zu lesen. Nur eine Furcht, die vielleicht nie wieder völlig daraus weichen würde.
»Du hast es geschafft«, sagte Winterfeld. Er sah Mike an, dann den Kater und schließlich das Mädchen. »Du hast uns allen das Leben gerettet!«
»Das war nicht ich«, antwortete Mike. »Bedanken Sie sich bei ihm.« Er deutete auf Astaroth. Winterfelds Blick folgte seiner Geste, aber er wirkte nicht überrascht, sondern zutiefst erschüttert.
»Und was haben Sie jetzt vor?« fragte Arronax.
Winterfeld drehte sich zu Arronax und Trautman herum. Er deutete auf die NAUTILUS, die neben dem Schiff auf dem Meer trieb.
»Gehen Sie«, sagte er. »Nehmen Sie Ihre Leute und die Jungen, und fahren Sie nach Hause.«
»Sie lassen uns gehen?« fragte Trautman. Seine Stimme klang erleichtert - aber auch ein wenig mißtrauisch.
»Ja«, bestätigte Winterfeld. Dann wandte er sich an Mike. »Bitte geh«, sagte er noch einmal. »Bring das Mädchen zurück. Ich lasse Arronax die Unterlagen zurückgeben. Vielleicht findet ihr einen Ort, an dem Serena sicher vor der Welt ist.« Und die Welt vor ihr, fügte sein Blick hinzu. Er sprach es nicht aus, aber Mike las die Worte deutlich in seinen Augen. Er hatte niemals zuvor einen Menschen gesehen, der so tief erschüttert gewesen wäre wie Winterfeld in diesem Moment.
Wird sie ... ruhig bleiben? fragte er lautlos, und Astaroth antwortete auf demselben, lautlosen Weg: Solange ich bei ihr bin, ja.
»Sie lassen uns wirklich gehen?« vergewisserte sich Trautman. »Das ist keine Finte?«
»Ich gebe Ihnen zweiundsiebzig Stunden«, antwortete Winterfeld. »Das sollte reichen, Arronax und seine Mannschaft an Land zu bringen und zu verschwinden. Zweiundsiebzig Stunden, Trautman, keine weniger, aber auch keine mehr.« Er deutete auf Mike. »Dieser Junge da hat mir und jedem Mann an Bord dieses Schiffes das Leben gerettet. Dafür lasse ich euch laufen. Aber danach sind wir quitt. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind wir Feinde.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, sagte Trautman leise. Winterfeld schwieg, und auch Mike wußte, daß er sich irrte. Während er aufstand und Serena behutsam bei der Hand ergriff, um sie über das Deck der LEOPOLD dorthin zu führen, wo die NAUTILUS darauf wartete, Serena in ihre kalte, dunkle Heimat unter den Meeren zurückzubringen, wußte er, daß sie sich wiedersehen würden.
Vielleicht nicht hier, und vielleicht nicht auf eine Weise, die sie sich jetzt schon vorstellen konnten, und vielleicht sogar an einem Ort, von dem sie keine Ahnung hatten, daß er existierte, aber sie würden sich wiedersehen.
Wolfgang Hohlbein, geboren in Weimar, lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Für sein Erstlingswerk »Märchenmond«, ein phantastischer Roman, den er gemeinsam mit seiner Frau Heike schrieb, erhielt er 1982 den ersten Preis des vom Verlag Ueberreuter veranstalteten Wettbewerbs zum Thema Science Fiction und Phantasie.
Außerdem erhielt dieser Titel 1983 den »Phantasie-Preis der Stadt Wetzlar« und den »Preis der Leseratten«.
Von Wolfgang und Heike Hohlbein erschienen:
Märchenmond
Märchenmonds Kinder
Elfentanz
Midgard
Drachenfeuer
Der Greif
Spiegelzeit
Unterland