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Jetzt näherten sich Bens hastige Schritte dem Turm. Vor den beiden Bullaugen stieg eine sprudelnde Wasserlinie in die Höhe.

Ben schaffte es, aber buchstäblich im allerletzten Moment. Kaum eine Sekunde, bevor sich das Wasser endgültig über der NAUTILUS schloß, sprang er mit einem Satz die Leiter herab, und beinahe gleichzeitig knallte Singh den Lukendeckel über sich zu - allerdings nicht schnell genug. Ein Schwall eisigen Wassers schoß herein und ergoß sich über Ben, der gerade erst aus dem Wasser heraus war. Ben begann zu schimpfen, aber niemand achtete darauf.

Das Schiff sank immer schneller und entfernte sich gleichzeitig weiterhin von der Fähre. Im Inneren des Turmes wurde es düster, als die NAUTILUS immer tiefer sank, um eventuellen Verfolgern zu entgehen. Mike schätzte, daß sie sich jetzt schon gute zwanzig oder gar dreißig Meter unter der Meeresoberfläche befanden.

Trotzdem blieb Trautman noch eine geraume Weile gebannt über seine Kontrollen gebeugt stehen, ehe er sich mit einem hörbaren Seufzen aufrichtete und zu ihnen herumdrehte.

»Alles in Ordnung?« fragte er. Er sah ziemlich erschöpft aus, fand Mike. Es war etwa zwei Stunden her, daß sie sich voneinander verabschiedet hatten, aber Trautman schien in dieser Zeit um Jahre gealtert zu sein.

»Was ist passiert?« fragte Mike noch einmal. »Warum sind Sie zurückgekommen?«

Trautman legte einen Schalter am Kommandopult um, trat von dem fast mannsgroßen Steuerrad zurück und deutete auf die eiserne Wendeltreppe im Boden, die tiefer ins Innere des Schiffes hinabführte. Der eigentliche Kommandoraum der NAUTILUS befand sich im Rumpf des Schiffes, zwei Etagen unter ihnen.

Mike hatte das Gefühl, gleich vor Neugier platzen zu müssen, aber irgendwie brachte er das Kunststück fertig, sich zu beherrschen. Sie folgten Trautman in den großen, behaglich eingerichteten Kommandoraum der NAUTILUS und zu einem Tisch in der Ecke, auf dem eine Zeitung lag; die TIMES, die Trautman vor etwa drei Wochen gekauft hatte. Mike warf einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen, die in zehn Zentimeter großen Lettern auf der Titelseite prangten:

GROSSBRITANNIEN STELLT DEM KAISER EIN ULTIMATUM!

IST DER KRIEG NOCH ZU VERMEIDEN?

Für einen kurzen Moment überlegte Mike, ob Trautman tatsächlich nur wegen des Kriegsausbruches seine Absicht geändert hatte. Doch Trautman schlug die Zeitung weiter hinten auf.

»Hier«, sagte er, während er sie Mike reichte. »Ich habe es vorhin erst entdeckt, als ich noch einmal darin geblättert habe. Dabei hatte ich es die ganze Zeit über praktisch vor der Nase! Meine Schuld. Lies!«

Mike überflog rasch den Artikel während sich die anderen im Halbkreis hinter ihm aufstellten und versuchten, über seine Schulter zu blicken. Die Meldung bestand nur aus wenigen Sätzen und besagte, ein deutsches Kriegsschiff habe eine friedliche französische Forschungsexpedition im Atlantik überfallen, ihr Schiff und die gesamte Ausrüstung gekapert und die Besatzung gefangengenommen - bis auf einen einzigen Mann, der wie durch ein Wunder hatte entkommen können.

Verwirrt runzelte Mike die Stirn und gab Trautman die Zeitung zurück. »Und?« fragte er. Der Artikel war sicher bemerkenswert, aber er begriff nicht ganz, wieso Trautman darüber so aufgeregt war.

»Schau dir den Namen des Mannes an, der die Expedition geleitet hat«, sagte Trautman.

»Professor Arronax«, buchstabierte Mike den ungewöhnlich klingenden Namen. »Und?«

Der Name sagte ihm nichts - aber er bemerkte, daß Singh leicht zusammenfuhr.

»Professor Arronax gehört zu den wenigen noch lebenden Menschen, die jemals an Bord der NAUTILUS waren«, erklärte Trautman. »Seit der Begegnung mit deinem Vater haben sie ihr Leben der Suche nach dem versunkenen Atlantis gewidmet.«

»Aber Atlantis ist doch nicht mehr als eine Legende«, warf Juan ein.

Ein leichtes Lächeln erschien auf Trautmans Gesicht. »Wie die NAUTILUS?« entgegnete er.

Juan zuckte leicht zusammen. »Wollen Sie damit sagen, daß -?«

»Ich will gar nichts sagen«, fiel ihm Trautman ins Wort, »Ich weiß lediglich, daß Professor Arronax davon überzeugt ist, daß es Atlantis gegeben hat und daß er zeit seines Lebens danach gesucht hat.«

»Aber warum sollten die Deutschen eine Forschungsexpedition überfallen?« wunderte sich André.

»Nicht die Deutschen«, korrigierte Trautman und deutete auf die letzten Sätze des Artikels. »Das Flottenkommando hat jede Verantwortung für diesen Zwischenfall abgelehnt, und in diesem Fall glaube ich das, weil es das einzige ist, das Sinn ergibt. Die deutsche Marine dürfte ganz andere Probleme haben, als sich mit der Suche nach Atlantis abzugeben.«

»Winterfeld«, murmelte Mike in jähem Begreifen.

Trautman nickte ernst. »Ja. Genau das befürchte ich auch. Es war zu erwarten, daß er nicht untätig bleiben würde, nachdem er unsere Spur verloren hatte. Wie in dem Artikel steht, hat Professor Arronax eine Taucherglocke entwickelt, mit der man sehr viel tiefer als bisher ins Meer hinabsteigen kann.«

»Und Sie glauben, er hat Atlantis entdeckt?« Der Zweifel in Bens Stimme war nicht zu überhören.

»Mag sein«, erwiderte Trautman. »Wenn es jemanden gibt, der den verlorenen Kontinent finden kann, dann ist es Arronax. Er weiß vermutlich mehr darüber als jeder andere lebende Mensch.«

Einige Sekunden herrschte Schweigen.

»Aber ... aber selbst wenn es Atlantis wirklich gegeben hat - was verspricht sich Winterfeld davon, es zu finden?« fragte Mike schließlich. »Die Insel soll schon vor Tausenden von Jahren versunken sein. Vielleicht existieren noch ein paar Ruinen, aber die haben doch höchstens archäologischen Wert.«

Trautman rang einen Moment sichtbar mit sich, dann seufzte er. »Es hat wohl keinen Sinn, die Wahrheit länger zu verschweigen. Über kurz oder lang werdet ihr es ja doch erfahren.« Er sah Mike an. »Hast du dich eigentlich noch nie gefragt, woher dein Vater dieses Schiff hatte?«

»Ich ... ich dachte, daß er die NAUTILUS selbst entworfen hat«, stotterte Mike.

Trautman machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist, was alle glauben sollen«, sagte er. »Eine Legende, die Nemo selbst in die Welt gesetzt hat, um von der Wahrheit abzulenken. Ihr habt das Schiff inzwischen alle ganz gut kennengelernt. Eigentlich hätte ich erwartet, daß ihr längst von selbst darauf gekommen seid, daß das nicht stimmen kann. Kein Mensch wäre in der Lage, so etwas zu bauen.« Er schüttelte bekräftigend den Kopf. »Nicht in hundert Jahren.«

»Aber ... soll das heißen ...« Mike brach ab. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Arronax' jahrzehntelange Suche, Winterfelds Überfall auf die Expedition und Trautmans Entsetzen darüber. »Die NAUTILUS kommt aus Atlantis«, murmelte er fassungslos.

»Dein Vater hat selbst mir nie erzählt, wie er die NAUTILUS bekommen hat«, erklärte Trautman ernst. »Er hat nur einmal eine Bemerkung über ein verlorenes Reich unter dem Meer gemacht. Aber damit kann er nur Atlantis gemeint haben.«

Er schloß für einen Moment die Augen und fuhr mit veränderter Stimme und großem Ernst fort: »Wenn die untergegangene atlantische Zivilisation in der Lage gewesen ist, ein Schiff wie dieses zu bauen, kannst du dir dann vorstellen, was sie noch alles hinterlassen hat? Darauf hat es Kapitän Winterfeld abgesehen.«

Mike wurde blaß, als er die volle Bedeutung dessen begriff, was er gerade gehört hatte. Er warf einen Blick in die Runde und sah, daß es den anderen ebenso erging. Nur Singh sah ungerührt aus wie immer.

»Ich glaube, daß Winterfeld von Anfang an nur hinter dem Geheimnis von Atlantis her war«, fuhr Trautman fort. »Vielleicht ist das sogar der einzige Grund, aus dem er die NAUTILUS haben wollte - um mit ihr nach Atlantis zu suchen. Die Geheimnisse von Atlantis in den Händen eines Verrückten wie Winterfeld - unvorstellbar.« Er erschauerte sichtlich. »Deshalb bin ich zurückgekommen«, sagte er. »Ganz egal, wie, und ganz egal, was es uns kostet - wir müssen ihn aufhalten. Winterfeld darf Atlantis niemals finden.«