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Er streckte sich auf dem Diwan aus und schloß die Augen. Wie gewöhnlich erschien daraufhin Marion am Diwanrand, und er machte ihr heftige Vorwürfe wegen Fritz, wegen ihres Benehmens und wegen der Schande, die sie über den Namen Hassa gebracht hatte. Die imaginäre Marion neigte den Kopf zur Seite und meinte, wie stets, daß sie nichts dafür könne, was psycho-analytisch betrachtet vielleicht nicht unrichtig war, aber dennoch Dr. Hassa maßlos erzürnte.

Plötzlich sprang er auf, ging zum Schreibtisch und schob Marions Bild in die Lade. »So«, sagte er dabei und schnaufte befriedigt. Er ging im Zimmer auf und ab und versuchte an die Neger zu denken, die fast nie pathologische Scheidewandanomalien aufwiesen. Es gelang ihm nicht, und seine Gedanken nahmen den gewohnten Lauf.

Es war nunmehr erwiesenerweise grundfalsch, daß er Marion überhaupt geheiratet hatte. Noch unverständlicher war es allerdings, daß er sich einen psychoanalytischen Kollegen zum besten Freund auserwählt hatte. Übrigens war Fritz ein miserabler Psychoanalytiker. Eine Patientin, die wegen schlechten Schlafs klagte, behandelte er auf akute Melancholie, dabei hatte die Kleine nur ein Adenomyom. Ja, ein ganz gewöhnliches Adenomyom! Und erst er, Hassa, hatte das richtig festgestellt. Aber Marion hatte eine Schwäche für Psychoanalyse und verstand nichts von exakter Wissenschaft. Und dann erst der Skandal. Einfach durchgehen! Dabei hatte sie bis zuletzt ganz unschuldige Augen, als wäre sie nicht schon seit Monaten mit dem Fritz… Na ja. Und nachher sagte Fritz im Kaffeehaus, daß Laryngologen verhinderte Dentisten seien ohne Verständnis für die Seele der Frau. Er sollte Fritz deswegen vor die Ärztekammer bringen. Beim Versöhnungstermin hatte Marion einen gelben Hut auf und neigte den Kopf zur Seite, als hätte sie einen Gehirntumor.

An dieser Stelle angelangt, pflegte Dr. Hassa stets einen Kognak zu trinken und sich in eine ungemein unverständliche Arbeit über den Nervus sympaticus zu vertiefen. Dieses Mal fühlte er überraschenderweise weder ein Verlangen nach Kognak noch nach schwerwiegender Lektüre. Er blieb erstaunt im Zimmer stehen und wußte genau, daß die grauäugige Türkin, die so ahnungslos in die Klinik hineintorkelte, die geheime Ursache davon war.

»Ein wildes Kind, vielmehr eine Angorakatze«, dachte Hassa und fühlte plötzlich den unstillbaren Wunsch, die Angorakatze zu streicheln. Er setzte sich hin und schüttelte traurig den Kopf. Alles ging schief, seit Marion ihn verlassen hatte. Seltsamerweise schien es seitdem ununterbrochen zu regnen. »Ich würde sie Asi nennen«, dachte er ganz nebenbei. »In der Ärztegesellschaft wird man jeden Donnerstag sagen, daß ich eine Angorakatze geheiratet habe. Intimere Freunde werden mich einen Sodomiten nennen und vor Neid vergehen. Ob Türkinnen zur Psychoanalyse neigen?«

Er nahm Hut und Mantel, ging zum Wagen und fuhr sehr langsam und auch dadurch Anstoß erregend zur Uhlandstraße. Er ging den Vorderaufgang bis zum vierten Stock hinauf, ohne eine Familie Anbari zu finden. Etwas außer Atem kam er wieder nach unten und erfuhr beim Portier, daß die »Wilden« im Hofe rechts wohnten. Er klingelte lange an der defekten Tür und erfuhr vom verschlafenen Zimmervermieter, daß die »Wilden« heute türkische Weihnachten oder etwas Ähnliches feiern. Er erfuhr sogar, wo die Feier stattfinde und fuhr eiligst hin. Unterwegs wurde er aber von Zweifeln befallen und traute sich nicht in den Klub hinein, denn eine öffentliche Ohrfeige in Anwesenheit aller Wilden wäre ein zu großes Risiko. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß das wilde Mädchen allein den Klub verlassen würde. Dr. Hassa ging die Straße auf und ab, überstand den Regen unter einem Hausvorsprung und wunderte sich sehr, daß die Türken auch Weihnachten feiern.

Endlich erblickte er die zierliche Gestalt, die unschlüssig auf den Himmel und auf den Asphalt blickte und zog rasch den Hut.

»Uhu«, sagte das Mädchen und schüttelte sich vor offensichtlichem Ekel. Immerhin würdigte sie Hassa eines Blickes und blieb stehen, das Kinn leicht nach vorne geschoben.

»Ich bin zerknirscht, mein Kind«, sagte Hassa.

Asiadeh schob die Lippen vor. »Ich bin nicht Ihr Kind, ich bin Asiadeh«, sagte sie finster. Sie trat von einem Fuß auf den andern und fügte bedächtig hinzu: »Es regnet. Wenn wir hier lange stehenbleiben, kommt mein Vater und schneidet Ihnen die Lippen ab. Was tun Sie dann?«

»Ich werde nie wieder küssen können«, sagte Hassa betrübt und versuchte Asiadehs Arm zu streicheln.

»No! No!« rief sie streng. »Mein Vater ist sehr stark.«

Dann schwieg sie nachdenklich und meinte mit plötzlichem Entschluß: »Also gehen wir schon, sonst kommt der Vater wirklich.«

Sie trabte dahin, und Hassa folgte ihr, verzweifelt auf das bereitstehende Auto weisend. Asiadeh schüttelte energisch den Kopf.

»Nein«, sagte sie entschlossen. »Gehen Sie ruhig hinter mir her.« Sie ging, und Hassa folgte ihr. Am Wittenbergplatz fing es zu regnen an, und Asiadeh blieb unschlüssig unter einem Dachvorsprung stehen.

»Gnade«, sagte Hassa demütig. »Darf ich Ihnen in ein helles, menschenerfülltes und geheiztes Kaffeehaus folgen?«

Asiadeh sah zu ihm hinauf.

»Gräßliches Klima«, sagte sie. »Ich verstehe, warum wir dieses Land nie erobert haben.« Dann blickte sie zum Himmel empor und fügte gnadenvoll hinzu: »Sie dürfen mich in ein Kaffeehaus begleiten.«

Es klang keineswegs wie eine Niederlage. Sie ging über die Straße, und Hassa öffnete die Glastür eines Kaffeehauses. Sie traten ein, und Asiadeh beugte sich in schweigsamem Ernst über eine Tasse Mokka. Sie atmete befriedigt den Mokkaduft ein und empfand leichtes und angenehmes Herzklopfen.

»Zürnen Sie mir nicht, Asiadeh«, bat Hassa verlegen. »Ich werde es bestimmt nie wieder tun.«

Asiadeh stellte die Tasse weg und sah Hassa entgeistert an. »Wirklich?« sagte sie beinahe erschrocken und biß sich auf die Lippen. Erleichtert streckte ihr Hassa die Hand entgegen. Asiadeh nahm sie gnädig, und Hassa küßte den Handrücken sanft und ehrerbietig. Der Friede war geschlossen.

Sie saßen dicht nebeneinander im menschenerfüllten Kaffeehaus, und Asiadeh sprach von dem Neger aus Timbuktu, von dem Eunuchen, der ihr zu Hause die arabischen Gebete beigebracht hatte, von der Grande Rue de Pera, die viel schöner war als alle Straßen Berlins, und von dem Prinzen Abdul-Kerim, den sie heiraten sollte.

»Sie werden es aber nicht tun?« fragte Hassa besorgt.

»Ich habe ihn nie gesehen. Ich weiß nur, daß er dreißig Jahre alt ist. Er verschwand nach der Revolution. Wenn man es genau nimmt, hat er mich verlassen. Aber es ging wohl nicht anders.«

Hassa blickte sie verständnisvoll an und hatte das Gefühl, daß eine Revolution hin und wieder auch positive Seiten aufweise.

»Was werden Sie tun, wenn Sie zu Ende studiert haben?«

Asiadeh blickte verträumt auf die Kuchenplatte und nahm einen Mohrenkopf.

»Ich werde den Präsidenten der Vereinigten Staaten heiraten oder den König von Afghanistan.«

Zuckerstaub bedeckte ihre Lippen. Sie spreizte vergnügt die Finger und nahm aus Hassas Etui eine Zigarette.

»Haben Sie denn schon je geliebt?« fragte Hassa.

Asiadeh legte die Zigarette weg und errötete heftig. Ihre grauen Augen blitzten auf und wurden ganz dunkel.

»Kein Mensch in Europa versteht sich zu benehmen«, sagte sie zornig. »Mit fremden Damen spricht man nicht über die Liebe. Man starrt sie auch nicht so mit Stieraugen an. Wir sind in der Liebe genau so erfahren, aber schweigsamer und stiller. Deswegen nennt man uns auch die ›Wilden‹.«