Gerührt blickte Asiadeh auf die Runenschrift. Es war ihr, als lese sie in den schwarzen eckigen Linien die Geschichte ihrer Träume, Wünsche und Hoffnungen. Etwas Lockendes und Gewaltiges entstand hinter dem Chaos der primitiven Formen und Wortbildungen. Sie witterte das Geheimnis des Anfangs, das in den ältesten Klängen ihrer Rasse verborgen war. Sie sah die ersten Menschen eines werdenden Volkes, wie sie einst über die vereisten Schneesteppen wanderten und aus dem Urrätsel ihrer Seelen die ersten Klänge und Töne einer Sprache schufen. Ihre kleinen Finger verfolgten die Linien der Schrift. Langsam las sie: »Sechzehn Jahre alt war mein Bruder Kül-Tegin und sehet, was er tat! Er zog ins Feld gegen das Volk der Zöpfe und schlug es. Er stürzte sich in die Schlacht, und seine kriegerische Hand erreichte den Feind Ong Tutuk, der fünfzig Tausend befehligte.«
Es läutete schrill. Asiadeh hob den Kopf und rieb die ermüdeten Augen. Sie saß im kleinen Lesesaal des Seminars, und um sie herum ertönte das gutturale Flüstern der Sinologen, die unterdrückten Kehllaute der Arabisten und die stillen Lippenbewegungen der konsonantenschluckenden Ägyptologen, die alle Rätsel des Niltales erforscht haben bis auf das Rätsel der richtigen Aussprache des Wortes Osiris.
Asiadeh erhob sich und blickte in den Stundenplan. »Die ersten Osmanen«, las sie. »Hörsaal 8: Dozent Dr. Meyer.« Sie ging zum Hörsaal hinauf, und der Ungar Dr. Szurmai traf sie im Gang und erzählte liebenswürdig und verzückt von einem neuentdeckten Turanismus in den ugro-finnischen Agglutinationen. Asiadeh hörte ihm zerstreut zu. Sie hatte nur ein einziges Mal einen lebenden Ugro-Finnen gesehen. Es war ein dicker blonder Steward aus Helsingfors, der nach Rum roch und sinnlos fluchte. Es war verwirrend zu denken, daß auch die Wiege seines Geschlechtes in den selben fernen Steppen stand, aus denen einst die ersten Osmanen erstanden und sich gegen Westen ergossen.
»Es ist ein Aorist«, sagte der Ungar. »Verstehen Sie, ein Aorist.« Asiadeh verstand es. Sie trat in den Hörsaal. Der Sinologe Goetz beugte seine Glatze über ein Papier und erklärte dem Tataren Rachmetullah die Hieroglyphe »Tü-Ke«. Er zeichnete schön geschwungene Linien und sprach mit dumpfer Stimme:
»Sie verstehen, Kollege. Der Sinn ist in diesem Falle ohne Bedeutung. Es kommt auf den Laut an. Die Chinesen kennen aber kein ›r‹. Tü-Ke ist also die Hieroglyphe für Türke.«
Rachmetullah saß da mit offenem Munde und gerunzelter Stirn. Seine kleinen Augen blickten erbost auf die Hieroglyphe, deren Sinn ohne Bedeutung war.
Meyer kam und hatte ein jugendliches Gesicht, graue Haare und eine Fähigkeit, alle Sprachen des Orients mit schwäbischem Akzent auszusprechen. Er sprach von dem Goldenen Gebirge des Altais, aus dem das Volk entstand, er sprach von dem großen Helden Oghus-Khan, dem Sohne Kara-Khans, der dem Volke das Heer gab, und vom Ertogrul, dem Stammvater der Osmanen, der sich mit 444 Reitern gegen die Griechen warf und das heilige Reich Osman begründete.
»Ertogrul hatte drei Söhne«, sagte Meyer auf schwäbisch, »Osman, Gedusalp und Surajaty Sawedschi, deren ersterer der eigentliche Begründer jener Bewegung ist, die zu untersuchen wir uns zur Aufgabe gestellt haben.« Damit schloß er, denn es klingelte, und er war ein geplagter Mann und noch lange kein Ordinarius.
Asiadeh lief die Treppe hinab. Sie verkroch sich in der Bibliothek wie eine Schnecke in ihr Haus. Sie ergriff vom Regal das erste beste dicke Buch und las verwundert am Deckel »Kudatku-Bilik«. — »Das beglückende Wissen.«
»Uigurische Ethik aus dem zweiten Jahrhundert.«
Sie schlug das Buch auf. »Seite fünfzehn, Vers fünfzehn«, befahl sie sich selbst und begann zitternd vor Aberglauben die geheimnisvollen uigurischen Sätze zu entziffern. Die Schrift war verworren und die Formen waren fremd. Es hatte schon längst geklingelt, aber sie achtete nicht darauf, ganz versunken in das Geheimnis der Vergangenheit. Endlich entzifferte sie:
»Was man dir bietet, kommt und geht, nur das beglückende Wissen bleibt. Alles, was die Welt enthält, endet und schwindet. Nur das Geschriebene steht fest, alles andere fließt dahin.«
Es klang sehr erhaben, hatte aber nicht die geringste Beziehung zu Asiadehs Gedanken. Sie beugte den Kopf, blickte bestürzt grüblerisch auf die Übersetzung und hatte das Gefühl, mit größter Anstrengung eine leere Flasche entkorkt zu haben. Sie steckte den Zettel ein und blickte sich um. Befriedigt stellte sie fest, daß sie allein im Zimmer war und kratzte sich verstohlen am Kopf. Sie hatte dabei die felsenfeste Überzeugung, daß es so nicht weiterginge. Alltäglich erwartete sie Hassa am Hause mit dem Auto. Er brachte sie in die Universität, fuhr mit ihr in den Grunewald spazieren, schenkte ihr Blumen und ließ rätselhafte Worte über die Freuden des Familienlebens fallen. Hin und wieder streichelte er ihre Hände, und seine Lippen huschten über ihre Stirn.
Asiadeh blickte verbissen auf die lange Reihe der Bücherregale. Alles wäre anders gekommen, wenn sie, auch weiterhin dem Gebote der Sittsamkeit folgend, ihr Gesicht mit dem Schleier verhüllen würde. Dr. Hassa hätte sie nie erblickt, das Leben wäre unkompliziert geblieben, und sie selbst müßte nicht über das Geheimnis der Liebe grübeln, anstatt turanische Präfixe zu untersuchen.
Nachdenklich kratzte sie mit dem Finger das dunkle Holz des Tisches. Es war wohl überhaupt ein Fehler, die Heimat zu verlassen. Aber der Vater hatte es so gewollt — und nun brach das Unglück über sie herein — die Liebe zu einem fremden Mann, der anders fühlte, anders dachte, anders handelte als alle Menschen, an die sie gewohnt war.
Asiadeh seufzte und verachtete sich tief. Sie fühlte sich machtlos und beschämt. Hassa verfolgte sie, und es gab kein Entrinnen aus dem lockenden Kreis seiner Worte, Blicke und Gebärden.
Asiadeh erhob sich und ging an den Bücherregalen entlang. Der glatzköpfige Bibliotheksverwalter, der an der Tür saß und in den Katalogen blätterte, warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie tat so, als suchte sie ein vertrautes Buch, und ihre besorgten Blicke glitten über die Suaheli-Grammatik und die Einführung in das Mittelpersische.
»Heiraten«, dachte sie verwirrt und kehrte zu ihrem Sitz zurück. Sie nahm einen Bogen und zeichnete mit dem Bleistift Dämonenköpfe, geometrische Figuren und unbekannte Endungen nie gehörter Worte. Dann legte sie den Bleistift weg und wunderte sich, daß auf dem Papier in schöner arabischer Schrift »Prinz Abdul-Kerim« geschrieben stand. Sie schüttelte den Kopf und schrieb denselben Namen in lateinischen Lettern. Dann strich sie ihn durch, schrieb den vollen Titel auf türkisch »Schah-Sade Abdul-Kerim-Effendi hasretlari« und wußte plötzlich genau, daß sie die ganze Zeit an nichts anderes als an den verschollenen Prinzen gedacht hatte.
Sie hatte ihn nie gesehen, aber sie ahnte ihn, wenn sie in einem Boot auf dem Bosporus an seinem Palast vorbeifuhr und einsame Diener auf den Terrassen sah. Er mußte helle Haut haben und die lange gebogene Nase der Osmanen. Seine Augen waren traurig und sein Mund fest zusammengepreßt. Vielleicht neigte er, wie der Sultan Abdul-Asis, zu Trübsal und Melancholie. Vielleicht war er listig, schwach und brutal wie Abdul-Hamid. Vielleicht lebte er in träger Langeweile und hatte verhängte Augen, hinter denen sich eine verborgene jenseitige Welt ahnen ließ, ganz wie bei dem verträumten und stillen Memed-Raschi. Sie wußte es nicht, sie wußte nur, daß dieser Prinz, der im Palaste am Bosporus gewohnt hatte, ihr zugedacht war, daß sie keinen anderen lieben durfte und sich dennoch in einen Barbaren mit langen Beinen und lächelnden Augen verliebt hatte. Der Prinz war fort, auch er hatte sie nie gesehen, vielleicht kaum von ihr gehört. Vielleicht hatte er weiche, gepflegte Hände und die müde Liebe zum Tod, zur Stille und zum Vergessen wie der verstorbene Jussuf-Izzeddin. Es war nicht viel dran an dem müden Geschlecht der letzten Osmanen. Hassa war kräftiger, gesünder, näher.