»Ja, Exzellenz«, die Stimme des Kaufmanns klang erfreut.
»Ich hoffe, daß Ihr Volk fromm ist und die Gebote des Glaubens befolgt.«
»Fürwahr, es tut es, Exzellenz. Was wäre denn ein Volk ohne Gott.«
Er sprach von den Schulen und Moscheen Sarajewos, über die Zeit der Türkenherrschaft und über den Vater des Paschas, der in Bosnien residiert und Armeen geführt hatte. »Die Welt kennt uns wenig«, sagte er, »aber wir sind ein stilles und frommes Volk. Wir haben Gelehrte, Imame und Moscheen und Menschen, die bis Mekka gepilgert sind. Wollen der Pascha nach Sarajewo reisen?«
»Vielleicht.« Achmed-Pascha zupfte am Schnurrbart und blickte etwas geistesverloren in die Ferne. »Kennen Sie in Sarajewo eine Familie Hassanovic?«
»Es gibt mehrere, Herr.«
»Ich meine die, die in zwei Teile gespalten ist. Der eine wohnte in Wien.«
Der Kaufmann nickte erfreut und gleichzeitig verlegen.
»Wir können nichts dafür, Exzellenz. Es gibt keine Herde ohne ein schwarzes Schaf. Es gab einen Mann, der hieß Memed-Bei Hassanovic. Er fuhr von Sarajewo nach Mostar. Es war in den Zeiten, als Ihr Vater unsere Lande mit Weisheit beglückte. Ein Mann namens Husseinovic überfiel ihn in den Bergen oder er den Husseinovic — Gott allein weiß die Wahrheit. Aber einer blieb tot liegen, und es war Husseinovic. Wir waren damals ein einfaches Volk, und viel Blut floß in den Bergen. Drei Jahre übten die Hinterbliebenen Blutrache. Dann nahm Hassanovic sein Hab und Gut, sein Weib und seinen Sohn und ergriff den Wanderstab. Er wanderte nach Wien aus und verfiel dort dem Unglauben. Sein Sohn wurde reich, und sein Enkel ist ein Weiser. Aber Gott straft die Abtrünnigen. Sie alle haben böse Frauen, die ihnen Schande machen.«
Der Kaufmann verstummte. Er saß ruhig am Tisch, und sein Schnurrbart bewegte sich drohend und gleichmäßig. Dann ging er, breit und rund, wie ein Klotz Erde.
Der Pascha blieb sitzen. Er schwieg und rauchte versonnen. »Das kommt davon«, sagte er plötzlich zum Professor, »das kommt davon, daß der Vater in Bosnien kein ordentliches Polizeiwesen hatte. Gäbe es Ordnung, so hätte der Husseinovic den Hassanovic nicht überfallen können, und alles wäre in Ordnung. So rächen sich die Sünden der Ahnen an den Enkelkindern. Und trotzdem will ich nein sagen.«
Der Professor beugte sich vor: »Wenn ich Sie wäre, Exzellenz, hätte ich auch nein sagen wollen, aber ich hätte es nicht über mich gebracht.«
»Warum?«
»Man sagt nicht nein, wenn man nichts Besseres weiß. Sie wissen nichts Besseres, Pascha.«
»Es kann alles anders werden.«
»Es ist gut, Pascha, wenn zwei Menschen sich lieb haben.«
»Zu unseren Zeiten, Professor, liebte man nicht vor der Ehe.«
»Zu unseren Zeiten, Pascha, gingen die Frauen verschleiert.«
»Sie haben recht, Professor, ich will sehen, ob er ein guter Mensch ist.«
Er erhob sich und verließ das Kaffeehaus. Der indische Professor blickte ihm nach, und Smaragd notierte melancholisch:
»Fünf neue Kaffee und achtzehn alte macht fünfundzwanzig.«
»Dreiundzwanzig, Smaragd«, sagte der Professor, denn er war ein gelehrter Mann.
»Dreiundzwanzig«, schrieb Smaragd und sagte sehnsüchtig: »Eine sehr schöne Hanum. Kann sie glücklich sein mit einem Ungläubigen?«
»Darüber spricht man nicht, Smaragd. Eine Hanum aus Istanbul kann alles, sogar glücklich sein.«
Er schwieg und klapperte mit den Kaffeetassen. Er war froh, daß er keine Tochter hatte, die ohne Schleier ging und sich in fremde Männer verliebte…
Empire State Building an der fünften Avenue in New York. Hundertzwei Stockwerke und eine gedeckte Dachterrasse mit kreisendem Parkettboden, einer Jazz-, einer Girltruppe und Glaswänden, hinter denen sich die längliche Manhattan-Insel erstreckt. John Rolland sitzt am Fenstertisch. Der Parkettboden kreist. Die Girls schwingen die Beine im wilden Takt.
»Einen Martini«, sagt John Rolland und blickt auf die Girlbeine, »extra dry«, sagt er und trinkt in einem Zug die bittere eisgekühlte Flüssigkeit. Er steht auf und geht über das kreisende Parkett. Unter seinen Füßen leben, lieben, arbeiten und schlafen hundertzwei Stockwerke — eine ganze in die Höhe gezogene Stadt. Er tritt zur Glasveranda. Viereckige Türme ragen aus der Dunkelheit, und unzählige Fensteröffnungen leuchten in die Nacht. Erhellte Stockwerke hängen in der Luft, wie von einer übersinnlichen Kraft getragen. Die Schluchten der Avenuen gleichen ausgetrockneten Flußbetten, und in der Ferne — ein dunkler und duftender Fleck der lichtübergossenen Stadt — der Central-Park.
John Rolland beugt sich vor. Vom Riverside Drive, vom breiten und trüben Hudson, kommt schneidender Wind. John Rolland blickt in die Schlucht der Straßen. Einen Augenblick schwindelt es ihn. »Nein«, denkt er. »Nein«, und tritt zurück. »Einen Martini«, sagt er zum Kellner und blickt auf das Handgelenk mit der blauen pulsierenden Ader. »Nein«, denkt er wieder. »Irgendwann, aber noch nicht.« Er rückt die weiße Frackkrawatte zurecht und blickt in den Spiegel. Der Jazz heult einen wilden sehnsüchtigen Rhythmus. John Rollands Hand gleitet liebevoll über die Brusttasche. Dort, in die weiche Seide des Frackfutters gehüllt, ruht sein Bollwerk vor der Welt.
Das Bollwerk besteht aus zwei dünnen Büchern — dem Paß eines Bürgers der Vereinigten Staaten, rechtmäßig ausgestellt und auf den Namen John Rolland lautend, und einem Scheckbuch der Chase National Bank of New York auf den gleichen Namen.
John Rolland fühlt sich im Schutze der beiden Hefte sehr geborgen. Er trinkt einen Whisky und denkt, daß er morgen Kopfschmerzen haben werde, wie seit Jahren schon, aber er wird dennoch nicht in die Schlucht der Avenuen springen. Es ist sein Ehrgeiz, anders zu enden als sein Bruder, sein Vater, sein Großvater.
»Noch einen Whisky-pure«, ruft er, und seine Gedanken hellen sich auf. Er weiß nunmehr ganz genau, daß es falsch ist, den jungen Gelehrten erst nach tausend Metern auftreten zu lassen. Der junge Mann muß schon in den ersten zweihundert Metern in Erscheinung treten. Und zwar in einer Großaufnahme. Etwa: »Der junge Forscher in seinem Urwaldlaboratorium. Er bekämpft die tropische Malaria.«
»Sehr gut«, denkt John Rolland und hofft, daß er es bis morgen nicht vergessen haben wird. Er erhebt sich und wirft auf den Tisch einige Dollarnoten. Er geht zum Fahrstuhl und sieht im Spiegel seine hagere Gestalt im schwarzen Frack. Seine Ohren sausen im rasenden Mahagonikasten des Fahrstuhls. Auf der Straße öffnet er langsam den Schlag seines Wagens. Er drückt auf den Gashebel und fährt über die dunkle menschenleere Fifth zum Central-Park. Vor dem Park biegt er ab und steigt am Barbison-Plaza-Hotel aus. Der Portier reicht ihm die Schlüssel und ein Briefpaket. John Rolland blickt den Portier an und hat plötzlich müde und traurige Augen. In seinem Zimmer zieht er den Schlafrock an, geht zum Schrank, gießt sich nach einigem Zögern noch einen Whisky ein und setzt sich an den Schreibtisch. Er öffnet den länglichen Briefumschlag und denkt an den Absender, an den Filmagenten Sam Dooth, der eigentlich Perikles Heptomanides heißt, doch ist das letztere schon sehr lange her.
»Lieber John«, schreibt der Agent. »Anbei einige Briefe, die für Dich einliefen. Der vom Producer scheint von Wichtigkeit zu sein. Ich glaube, daß er für seine zehntausend Dollar tatsächlich verlangen kann, daß die Entführungsszene auf Hawaii verlegt wird.«
John Rolland seufzt und liest den Brief des Producers. Er denkt dabei, daß er eigentlich lyrische Gedichte schreiben sollte, und nicht Drehbücher, in denen die Entführungsszene nach Hawaii verlegt werden muß. Dann denkt er an den Producer, der viele tausend Meter noch unverwendeter Hawaiiaufnahmen hat, und beschließt, das Manuskript umzuarbeiten, denn 10000 Dollar sind viel Geld. Das Päckchen Briefe liegt vor ihm. Es enthält Rechnungen, Angebote und Anfragen. Die Briefe haben alle eine längliche Form und tragen den Firmenaufdruck auf der Vorderseite. Ein Brief ist viereckig und ohne Aufdruck. John Rolland nimmt ihn aus den Päckchen und weiß noch nicht, daß er ein Wunder in der Hand hält. Plötzlich wird er rot, und eine blaue Ader schwillt auf seiner Stirn. Sein Herz schlägt heftig, und er liest: »An Seine Kaiserliche Hoheit, den landesverwiesenen Prinzen Abdul-Kerim. Sehr wichtig! Bitte nachsenden!«