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Er wirft den Brief in die Ecke und springt auf. »Idiot«, denkt er und meint den Agenten. Er geht zum Telephon, dreht die Scheibe und wartet, bis im Hörer die Stimme des Agenten ertönt.

»Perikles Heptomanides«, ruft er erbost. »Wie oft habe ich gesagt — Briefe dieser Art gehören in den Papierkorb.« Der Agent ist betrunken. Er lispelt in einer landesfremden, aber allzu verständlichen Sprache etwas, das wie »Kaiserliche Hoheit« klingt. »Idiot«, ruft John Rolland und legt auf. Dann geht er im Zimmer auf und ab und schielt auf den Brief. Plötzlich hebt er ihn auf, reißt den Umschlag auf und liest die schön geschwungenen türkischen Zeilen. Dabei schüttelt er verständnislos den Kopf. »Anbari«, sagt er, »das war doch so ein Minister. Eine Tochter hat er. Naja. Ich glaube, es war davon die Rede.« Er schließt die Augen und hat für kurze Augenblicke das Gefühl, in eine andere, unwirkliche Welt versunken zu sein. Dann schüttelt er nochmals den Kopf und geht zum Schreibtisch. Er schreibt türkisch von rechts nach links und gleicht dabei seltsamerweise einem kranken Affen. Sein Gesicht sieht verfallen aus, und die Nase ragt raubvogelartig vor. Er schreibt:

»Liebe Asiadeh! Ich bin nicht mehr ich und wünsche Ihnen, daß Sie nicht immer Sie bleiben. Unser Herr und Kaiser hat uns beide geträumt, aber es war in einer anderen Inkarnation. Ihr Gewissen kann rein sein, denn mich gibt es gar nicht. Infolgedessen sind Sie vollkommen frei. Es ist nicht alles Sünde, was als solche bezeichnet wird. Aber vielleicht irre ich mich, weil ich nicht mehr ich bin. Sie studieren das Leben meiner Ahnen und sehnen sich dennoch nach mir. Das wundert mich. Betrachten Sie mich bitte als nicht existierend. Sollte es mich wieder einmal geben, so werde ich Sie rufen, aber es ist besser, wenn Sie nicht darauf warten. Seien Sie glücklich. Ich unterschreibe nicht, denn es gibt mich ja gar nicht.«

John Rolland klebt den Brief zu und wirft ihn in die tiefe Schlucht des Etagenbriefkastens. »Sehr bequem«, sagt er dabei und weiß nicht, ob es sich auf den Briefkasten oder auf das fremde Mädchen bezieht, die das Leben seiner Ahnen studiert und Asiadeh heißt.

Er entkleidet sich und legt sich ins Bett. Dabei fühlt er einen schleichenden Schmerz in sich aufsteigen und trinkt rasch noch einen Whisky. »Hawaii«, denkt er dabei, »zweitausend Meter. Ja.«

»Ja«, sagt auch Achmed-Pascha und umarmt Dr. Hassa. »Sie scheinen ein guter Mensch zu sein. Ich gebe Ihnen meine Tochter, obwohl sie für einen anderen bestimmt war. Gott helfe ihr, Ihnen zu dienen. Ich glaube, es ist nicht leicht. Geben Sie ihr viele Kinder, das wird sie freuen. Ich habe sie gut erzogen, und sie weiß, was sich gehört. Verstoßen Sie sie, falls es nicht der Fall ist.«

Er umarmt Hassa und schluchzt kurz. Hassa sieht ihn verlegen und beglückt an.

8

Asiadeh liegt auf dem Rücken, und Hassa gleicht einem großen und unbeholfenen Kind. Er beugt sich über sie, und sie spürt den Geruch seiner Haut und den Atem der geöffneten Lippen. Ihre Hände sind in die Kissen vergraben, und in den grauen Augen nistet Sehnsucht und Furcht. Hassas Lippen kommen immer näher. Sie werden größer und größer. Sie umfassen Asiadehs Mund, sie bedecken ihr Gesicht, sie wachsen, und Asiadehs ganzer Körper scheint in dem schmalen Spalt der geöffneten Lippen zu verschwinden. Hassas Hand berührt ihren Hals. Sie fühlt seine Finger über ihre Hand gleiten, und ihr Körper streckt sich dieser harten und fremden Haut entgegen. Sie wendet ihr Gesicht ab, und Hassas Hand preßt sich gegen ihren Busen.

»Asiadeh«, sagt Hassa, und sie umklammert seinen Kopf und legt ihre glühende Wange an Hassas Stirn. Hassas Körper ist jetzt ganz nahe. Unter halbgeschlossenen Lidern sieht Asiadeh seinen dunklen Rock und den dreieckigen Ausschnitt des Hemdes. Seine Lippen umfassen ihren Mund, sie hört seinen Atem und glaubt plötzlich in einer anderen, fremden Traumwelt zu sein, in der die Gefühle ausgeprägter, gespannter, schärfer sind als in der Welt des sichtbaren Daseins. Hassa gleicht einem gewaltigen Magier, der eine geheimnisvolle Macht besitzt, der über ihre Sinne herrscht und dem sie nicht entrinnen kann. Sie fühlt seine Hände an ihrer Haut, und ihr ganzer Körper scheint in diesen harten fremden Handflächen eingelullt zu sein. Sie erhebt sich, und ihr Kopf preßt sich gegen seine Brust. »Genug«, sagt sie sehr ernst und seufzt erleichtert und verwirrt.

Hassa erhebt sich. Er blickt verlegen auf Asiadeh, denn er weiß nicht, wieso er plötzlich auf den Diwan kam, so ungebührlich nahe zu den grauen Augen, die ihn lachend und mißbilligend anschauen. Asiadeh scheint es genau zu wissen. Sie legt den Kopf auf ihre Knie und surrt ein fremdes und eintöniges Lied. Sie blickt zu Hassa empor und freut sich, daß sie an den süßen Wassern von Istanbul zur Welt kam, denn sie kennt die Rätsel der Liebe, ihre Formen, ihren Ausdruck und ihre Geheimnisse.

In Hassas Zimmer wird es ganz dunkel. Hassa zündet eine kleine Tischlampe an. In ihrem Schein sieht sie sein Gesicht und hört, wie er von der Hochzeitsreise erzählt, die er nach Italien machen will.

»Ich fahre gar nicht nach Italien«, sagt sie und hebt den Kopf. »Nach der Hochzeit fahren wir nach Sarajewo.«

»Nach Sarajewo? Aber wozu denn?« Hassa ist aufrichtig erstaunt.

»So«, sagt Asiadeh, und es bleibt dabei, denn sie hat graue Augen, und Hassa ist nur ein Mann. Dann reibt Asiadeh ihr Kinn an ihrem Knie und blickt sehnsüchtig in die Dunkelheit. »Meine Amme«, sagt sie und hat plötzlich ganz große Pupillen, »meine Amme erzählte mir: Als der lahme Timur Siwas bezwungen hatte, versammelte er die tapfersten Krieger und die kränksten Aussätzigen und verurteilte sie alle zum Tode, damit die einen nicht durch ihre Schwäche, die andern nicht durch ihre Tapferkeit andere anstecken. Er befahl, sie alle lebendig zu begraben. Der Kopf wurde ihnen zwischen die Schenkel gebunden, sie wurden zu zehn zusammengekugelt und in eine Grube geworfen, in der sie erstickten. Die Amme erzählte es mir, damit ich mich hüte, zu tapfer oder zu wehrlos zu sein. Aber ich fürchte, es hat nichts genützt.«

»Wirst du mir treu sein?« fragt Hassa, weil er nicht weiß, was er fragen soll, und weil er eine Vergangenheit hat.

Asiadeh hebt den Kopf und ist sehr stolz. »Nimm die hundert schönsten Männer der Welt und setze sie mit mir auf eine einsame Insel. Komm in zehn Jahren. Keiner wird mich besessen haben. Mann und Frau sind wie eine Doppelnuß unter einer Schale, das hat noch der weise Saadi gesagt.« Sie setzt sich mit gekreuzten Beinen auf den Diwan und ist sichtlich empört. »Ehebruch kommt nur in Romanen vor, aber nicht unter Menschen. Ich werde dir bestimmt treu bleiben.«

»Liebst du mich so?« Hassa ist ehrlich bestürzt.

Asiadeh beugt den Kopf, und ihre Augen lächeln:

»Von der Liebe spricht man nicht, von der Liebe sprechen die Hände, die Augen, der Schleier, der in der Hochzeitsnacht herabgleitet. Ein Kuß ist keine Grabinschrift, aber das hat schon der große Hafis gesagt.«

Hassa brummt. »Das eine sagte Saadi, das andere Hafis. Was sagt Asiadeh?«

Asiadeh steht auf und hopst im Zimmer herum. »Nichts sagt Asiadeh. Asiadeh spricht nicht von der Liebe. Sie zeigt sie.« Sie geht in die Zimmerecke, hebt die Hände und stellt sich auf den Kopf. Ihre Füße stehen kerzengerade in der Luft, und sie wandert auf den Händen durch das ganze Zimmer. Dann stellt sie sich wieder auf die Beine und ist ganz außer Atem. »So lieb ich dich«, sagt sie und ist sehr zufrieden.

»Das mußt du in Wien auf dem Ring machen, wenn dich meine Freunde fragen, ob du mich lieb hast.«