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Asiadeh sprang auf und war plötzlich sehr aufgeregt. Sie ergriff die Leiter, und Hassa sah ihre Finger, die angestrengt den Rand seines Bettgestells umklammerten. Dann zeigte sich ihr Kopf mit zerzausten Haaren und zuletzt den blauen Pyjama, der in der Dunkelheit schwarz aussah. Hassa stützte sie, zog sie zu sich herauf, und ihre nackten Füße verkrochen sich unter seiner Decke. Sie preßte sich an ihn und sagte begeistert und feierlich: »Hier hat Großvater regiert.« Dann legte sie den Kopf auf sein Kissen und erklärte gebieterisch: »Ich bleibe bei dir. Unten ist es finster.«

Sie schlief sofort ein, und Hassa umklammerte ihren Körper, damit sie bei der Biegung des Geleises nicht herabstürze. So lag er eine Stunde oder zwei, er wußte es nicht mehr genau. Plötzlich wachte Asiadeh auf und sagte verschlafen und vorwurfsvolclass="underline" »Geh hinunter, Hassa. Welche Art, nachts in fremde Betten zu steigen!«

Beschämt stieg Hassa hinab, legte sich in das leere untere Bett, das noch Asiadehs Körperduft in seinen Falten barg, und schlief ein.

Als er morgens aufwachte, stand Asiadeh am offenen Fenster, weit in die kühle morgendliche Luft hinausgelehnt.

»Komm her«, rief sie. »Komm her!«

Er trat ans Fenster. Die Sonne ging auf. Zackige Felsen waren von rötlichem Schein übergossen. Der Zug fuhr über einen Bergrücken. Die Felsen fielen steil in die Tiefe hinab. Unten im Tal glichen weiße viereckige Häuser den zerstreuten Würfeln eines Spielkastens. Auf kleinen Anhöhen erhoben sich die gewölbten Kuppeln der Moscheen. Gebetstürme ragten zum Himmel empor und schienen in den Strahlen der Morgensonne aus rötlichem Alabaster gebaut. Bunte Gestalten standen auf den kleinen Balkons der Gebettürme und führten die Hände trichterartig zum Mund. Asiadeh glaubte die Stimme des Gebetsausrufers zu vernehmen, die das Getöse der Bahn zu übertönen schien. »Steh auf zum Gebet«, erklang es vom Turm. »Das Gebet ist besser als der Schlaf.« Vermummte Frauen mit herabfallenden Pantoffeln blieben am Wegrande stehen und sahen dem Zuge nach. Barfüßige Kinder legten sich in das Gras und beteten ernst und gleichsam verspielt.

Asiadehs Hand legte sich um Hassas Schulter. »Schau!« rief sie. »Schau!« Sie zeigte auf die Moscheen, auf die wallenden Gewänder der Priester, auf die rötlich aufgehende Sonne, und ihre Stimme war wie von einem Siegestaumel ergriffen. »Verstehst du nun?« fragte sie und winkte dem Tale zu.

»Was?« sagte Hassa, denn er sah zerlumpte Kinder, kleine ärmliche Häuser und magere Ziegen am Berghang.

»Wie schön das ist«, sagte Asiadeh. »Es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Das alles hat das Volk des Propheten erbaut.«

Sie wandte sich ab und biß sich in die Lippen. Aber Hassa hatte nichts von den Tränen gemerkt. Er knipste mit seinem Photoapparat das märchenhafte Tal und wußte nicht, ob die Belichtung richtig war.

»Hassa.« Asiadehs Stimme war ganz tief. Ihre Wangen berührten sein Gesicht und rieben sich an der unrasierten Oberlippe. »Hassa«, wiederholte sie. »Fünf Jahre habe ich mich nach einer Landschaft gesehnt, die der Heimat ähnlich ist.«

Hassa steckte den Photoapparat ein. »Ja«, sagte er. »Es ist schön, die Welt aus den Fenstern des Schlafwagens zu betrachten. Sie ist dann so anders als in Wirklichkeit. Aber du bist eine Romantikerin, und es ist gut so. Denn du bist herausgesprungen aus Tausendundeiner Nacht.«

Asiadeh packte den Handkoffer. Der Zug verlangsamte die Fahrt. »Ich bin nur ein Mädchen aus Istanbul. Nichts mehr«, sagte sie sanft und warf einen leichten Schleier über ihr Gesicht.

Der Zug hielt am Bahnhof von Sarajewo.

10

Während der Zug asthmatisch röchelnd im Sarajewoer Bahnhof hielt, bremste die Straßenbahn mit dem großen Bären im Wappenschild in der Kantstraße vor dem Teppichgeschäft Bagdadian & Cie. Achmed-Pascha stieg aus und ging etwas gebückt in den Laden. Der Geruch der alten Teppiche umgab ihn und wirkte beruhigend. Es war entschieden richtig, daß er eine bezahlte und keineswegs standesgemäße Stellung angenommen hatte. Die sanften Farben der Teppiche wirkten wie die Erinnerung an eine alte entschwundene Welt. In den weichen Linien der uralten Muster offenbarten sich Gärten, Jagdszenen, Kämpfe uralter Recken und sehnsüchtige Gesten schlanker Jungfrauen mit länglichen Augen und schmalen Gesichtern.

Achmed-Pascha setzte sich im hinteren Zimmer des Geschäftes vor einen Stoß alter Teppiche. Seine Hände streichelten den bunten Stoff mit uralten Linien. »Ein Kerman«, flüsterte er und notierte den Preis. Tekiner, Smyrnaer, Kaschmirer, Koschaner Teppiche, bunte Fetzen, die die Farbenpracht des Orients widerspiegelten, glitten durch seine Finger. Mit ernst gerunzeltem Gesicht notierte er die Preise und schrieb kurze Erklärungen, die den barbarischen, aber reichen Käufern hinter der verwirrenden Pracht der Farben eine klassische Kriegsszene aus dem Epos von Firdusi offenbaren sollten. Um zwölf Uhr zog er seine Schuhe aus, nahm einen länglichen Tekiner Gebetteppich und betete lange und inbrünstig in der Richtung der Prophetenstadt Mekka. Dann saß er hinter einem kleinen Regal, mit einer Lupe bewaffnet, vor einem Stoß persischer Miniaturen und belehrte den hageren Händler:

»Diese Zeichnung, mein Herr, gleicht der Schule Achmed-Fabrisis aus dem sechzehnten Jahrhundert. Sie dürfen aber den Käufer nicht irreführen. Es ist nicht der große Bahsade. Bahsade liebte die Architektur, die in die Tiefe des Bildes geht, er zeichnete Gärten und dahinter Seen und noch weiter nach hinten ein Reh. Das hier ist von einem minderen Zeichner der gleichen Schule.«

»Aha«, sagte Bagdadian und schrieb in den Katalog: »Zeichnung von Bahsade. Sehr selten.«

Achmed-Pascha sah es und preßte die Lippen besorgt zusammen. Das war offensichtlich der Weg, auf dem so viele Völker reich und mächtig wurden, während das Reich Osmans zerfiel. Bis zur Dämmerung arbeitete er in dem teppichbelegten Zimmer. Dann fuhr er nach Hause, und auf dem Tisch lag ein Brief mit dem Poststempel Sarajewo. Achmed-Pascha öffnete ihn. Er las, und seine Hände zitterten leicht. Er erfuhr aus dem Brief, daß Sarajewo eine Stadt mit Gottesfurcht sei und die Zarska-Dschamij der blauen Moschee Istanbuls gleiche. Er erfuhr, daß Hassa der beste Ehemann der Welt sei und seine Verwandten gute Menschen, die genau wissen, was eine Istanbuler Prinzessin ist. Ferner erfuhr er, daß es keinen besseren Menschenzustand gibt, als den der Ehe und keine bessere Hochzeitsreise als nach Sarajewo.

Der Brief war kurz, und die Zeilen liefen in schräger Linie nach oben.

»Sehr gut«, sagte der Pascha und faltete den Brief.

»Sehr gut«, sagte auch John Rolland, als er um Mitternacht in der engen Gasse von Greenwich Village am Rinnstein saß und die Frackkrawatte seines Agenten Sam Dooth um seinen schwarzen Spazierstock band. »Sehr gut«, sagte er und versuchte den Stock auf den Bürgersteig hinzustellen. Der Stock zitterte leicht und fiel um. Sam Dooth lachte schallend und schlug John Rolland auf die Schulter. Dann blickten die beiden betrübt auf den Stock und schwiegen. Hinter den Türen der kleinen Lokale des New Yorker Künstlerviertels ertönte grelles Geschrei. Trübe Laternen hingen über den Eingängen der Lokale, und ein Polizist ging über die Straße und blickte nachsichtig auf die beiden Herren, die im Rinnstein saßen und mit dem Stock spielten.

Die Herren schoben die Zylinder in die Nacken, und der eine führte die linke Handfläche ans Ohr. Er öffnete den Mund, und ein wildes Geheul durchschnitt die nächtliche Stille von Greenwich Village.

»Amanamana-a-a-ah«, sang der Herr voll Inbrunst und Hingabe. Der andere blinzelte vergnügt und fing die Melodie auf.

»Gjaschiskjamana-a-a-ah«, sang er und hob das Gesicht zum Mond empor. Daraufhin umarmten sich die beiden und brüllten gedehnt den Sternen entgegen:

»Ai-diribe-e-ee-h, Wai-diribe-e-e-eh.«

Die Tür zu einem Nachtlokal öffnete sich, und ein golduniformierter Portier blickte erschrocken heraus. Der Polizist näherte sich den beiden und berührte ihre Schulter mit dem Gummiknüppel.