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»Warum schreit ihr?«

»Herr, wir singen, wir sind musikalisch.«

Der Polizist blickte in den trüben Schein der Straßenlaterne. Er hatte rote und wässerige helle Augen, die an die Farbe des Ozeans an der Küste der grünen irischen Insel erinnerten.

»Das ist Geschrei«, entschied er gebieterisch. »Geht lieber nach Hause.«

»Mein Freund«, sagte der eine Herr. »Das ist die indochinesische Tonleiter. Sie ist, wie Sie richtig bemerkt haben, wesentlich anders als in Irland. Immerhin kommen Sie nicht darüber hinweg, daß Millionen von Menschen beim Klange dieser Tonleiter die ganze Skala der menschlichen Emotionen empfinden: vom Erotischen bis zum Göttlichen.«

»So«, sagte der Polizist drohend und zog seinen Notizblock. »Zehn Dollar«, fügte er sachlich hinzu und reichte die Quittung.

Die Herren zahlten. Der eine erhob sich und zog den andern hoch. Rhythmisch taumelnd verschwanden sie in der Richtung des Washington Square. Unterwegs umarmten sie sich, und der eine flüsterte dem andern ins Ohr.

»Dieses hier ist ein wildes Land. Die Menschen sind roh und unmusikalisch.«

Am Washington Square blieben sie stehen. Der Platz war menschenleer. Der schäbige Triumphbogen in der Mitte glich dem toten Auge eines Zyklopen. Hinter ihnen lag Greenwich Village. Von dort kamen die Töne des billigen Jazz. Jünglinge mit künstlerischen Locken tauchten im flatternden Lichte der Nachtlaternen auf. Sie hatten schwärmerische Augen und hastige torkelnde Schritte. Manchmal fuhr über die engen holprigen Straßen eine dunkle Limousine. Aus den Fenstern der Limousine blickten Augen voll Verachtung und Neugierde. Von weit her erklang das Geklirr eines zerbrechenden Glases, und eine hohe weibliche Stimme rief: »Joe, einen Drink.«

»Galata«, sagte John Rolland. »Einfach Galata. Oder Tatawla. Ich durfte ja nie hin, aber es kann kaum anders gewesen sein. Du mußt es wissen, Perikles.«

Sam Dooth kniff die Mundwinkel verächtlich zusammen. »Habe nie die Kloaken eurer Haupt- und Residenzstadt besucht.« Seine Stimme klang ungemein würdevoll. »Ich bin nämlich am Phanar geboren, am Sitze des Patriarchen. Noch unter Michael Porfirogenetos war ein Heptomanides Patrizier.«

»Du lügst«, sagte John Rolland vorwurfsvoll. »Du stammst aus dem Verbrecherviertel Tatawla. Sonst wärest du unfähig, mir zehn Prozent meiner Einkünfte wegzunehmen.«

»Was ist Geld«, hüstelte Dooth und spreizte die Finger. »Wichtig ist nur der seelische Friede. Übrigens nehme ich von andern fünfzehn Prozent.«

Er zog aus der rückwärtigen Hosentasche eine flache Metallflasche und reichte sie versöhnend dem Nachbarn. John trank, und sein nach rückwärts gebeugter Kopf verfolgte erstaunt die endlosen Reihen der Stockwerke der Wolkenkratzer. Stumme gigantische Steinmassen umringten den Platz. Der schäbige Triumphbogen in ihrer Mitte sah armselig und verloren aus. Er stammte aus den Zeiten, als fromme Puritaner an der Wall Street einen Friedhof besaßen und die Straßen der Stadt Namen statt Nummern trugen.

»Die Holländer sind ein leichtfertiges und verschwenderisches Volk«, sagte John Rolland und reichte dem Freund die Flasche zurück. »Sie haben den Indianern fünfundzwanzig Dollar für Manhattan bezahlt. Das war viel zuviel.«

Sam Dooth blickte in die majestätische Schlucht der Häuserreihen. »Man sollte das Geld zurückverlangen«, meinte er. »Oder die Indianer wegen Verführung zu einem wissentlich ungünstigen Geschäft gerichtlich verfolgen.« Er verstummte und legte den Kopf auf die Schulter des Freundes. »Es ist ja alles verjährt«, seufzte er und wußte selbst nicht mehr, ob er in dem Verbrecherviertel Tatawla oder am Aristokratenhügel Phanar zur Welt gekommen war.

Es graute. Die dunklen Giganten am Platz schimmerten in rosigem Silber.

»Hiun-Hu«, sagte plötzlich Rolland und hatte verglaste Augen. »Hiun-Hu«, wiederholte er. »In Europa nannte man sie Hunnen.

Sie waren ein Volk und eine ihrer Sippen nannten die Chinesen Tü-Ke — Türken.«

Er schwieg, und über den Platz fuhr der erste grüne und unförmige Autobus.

»Tü-Ke«, sprach er weiter, »sie waren eine robuste Sippe und kämpften gegen China. Dort herrschte damals Schi-Huan-Di. Das war ein weiser Kaiser. Um sein Volk gegen die äußeren Barbaren zu schützen, erbaute er die große Chinesische Mauer. Aber es half nicht viel. Die Barbaren stellten eine Leiter an die Mauer, kletterten nach China hinein und erlernten dort die indochinesische Tonleiter.«

John Rolland rückte die Krawatte zurecht und fühlte sich von neuem für das Leben gewappnet. Über den Washington Square fielen die ersten Strahlen der fahlen Sonne.

»Diese wilden Töne«, sprach er weiter, »brachte das wilde Volk an die Ufer des Mittelmeeres. Erst viel später entstand das heilige Haus Osman und das Gestirn-Palais am Bosporus.«

Sam Dooth blickte seinen Freund mit dem Stolze des Besitzers und Erfinders an.

»Du bist ein Lyriker, John«, sagte er bewundernd. »Man sollte einmal die indochinesische Leiter im Film verwenden. Ein fernöstliches Sujet. Vielleicht unter dem Titeclass="underline" ›Beim Bau der Großen Mauer‹. Großartiger Kostümfilm. Überdenk es.«

»Ich werde es überdenken«, sagte Rolland folgsam, »die Sonne wird über den sandigen Hügeln aufgehen, und das Volk wird die Große Mauer bauen. Ich aber werde Kopfschmerzen haben. Ich werde Pillen schlucken und in Unterhosen an der Schreibmaschine sitzen. Abends werde ich dann Whisky trinken, damit das Leben wieder schön ist.«

Er erhob sich. Sam Dooth stützte ihn. Er blickte auf das schmale und blasse Gesicht Rollands. So waren sie alle — die letzten Osmanen. Menschenscheu und gebieterisch. Einsam, sanft und brutal zugleich, mit zarten Gliedern und seltsamen Phantasien, die man mit Hilfe eines tüchtigen Agenten in Dollars umwandeln konnte.

Sam Dooth verstand plötzlich sehr gut, warum das Reich zerfiel und die Filme Rollands so leicht verkäuflich waren. Phantasten und Schwärmer saßen auf dem Throne Osmans und herrschten über drei Kontinente.

»Gehen wir«, sagte Rolland und stützte sich auf den Freund.

»Weißt du — ich war ein Gefangener im Palais am Bosporus und jetzt bin ich eingesperrt in die Steingrüfte dieser Stadt.«

»Was willst du«, seufzte Sam. »Du hast doch Geld. Du solltest vielleicht eine Reise machen. Dir die Welt anschauen. Du kennst doch nur den Bosporus und das Barbison-Plaza-Hotel. Ich fahre mit. Ich werde mit den Portiers sprechen und telephonieren. Du kannst es ja doch nicht.«

Sie gingen über den Platz. Auf der Terrasse des Cafés der Fifth Avenue standen die morgendlich verschlafenen Kellner. Die Terrasse war menschenleer, und die grünen Tische glichen einem taubedeckten Rasen. Sie betraten die Terrasse und setzten sich schwer und müde an den Tisch.

»Zwei Kaffee. Sehr stark«, sagte Rolland und war plötzlich ganz nüchtern. Dann beugte er sich zu seinem Freund hinüber und begann:

»Der Film spielt in China. Die Gegenwart wird visuell durch die Vergangenheit eingefangen. Die Mauer ist das Symbol des selbstgefälligen, beschränkten und überheblichen Friedens…«

Der Agent sah in dankbar an.

11

»Hosrew-Pascha war ein mächtiger und reicher Mann.« Asiadeh stand im Hofe der großen Moschee. Ein leichter Schleier verdeckte ihr Gesicht. Sie hatte ihren Kopf zurückgeworfen und verfolgte entzückt die schlanke Linie des Minaretts. »Sogar ein sehr mächtiger Mann«, wiederholte sie, »als er hierher kam, fand er drei Dörfer, die er schleifen ließ. An ihrer Stelle erbaute er einen Saraj — einen Palast —, seitdem heißt diese Stadt Sarajewo.«

Sie setzte sich auf die Marmorstufe des Moschee-Einganges und starrte auf die Fontäne mit der arabischen Aufschrift. Kinder spielten an der Fontäne, und ein Geistlicher mit weißem Turban ging über den Hof.