Выбрать главу

Hassa blickte zu Asiadeh, sah ihre traurigen Augen und die kurze rosige Oberlippe. »Ich will mir den heiligen Mann anschauen«, sagte er entschlossen.

Sie fuhren im Auto durch die holprigen Straßen zum Rande der Stadt. Asiadeh hielt Hassas Hand.

»Ich fürchte mich«, sagte sie. »Wie kann man einem Gottgezeichneten helfen.«

Hassa zuckte mit den Achseln. Seine Frau hielt ihn für einen Barbaren. »Ich kann etwas, was kein Philologe kann«, sagte er kurz.

Asiadeh sah ihn zweifelnd an. Sie war vom tiefen Mißtrauen des Orients gegen die Welt des technischen Wissens erfüllt. Der Beruf ihres Mannes erschien ihr als eine ebensolche Spielerei wie ihr eigener. Im Ernstfall gab es ja doch nur drei Berufe: Krieger, Priester, Staatsmann.

Sie hielten vor einem niedrigen weißgetünchten Hause. Im Hof unter einem breiten Baum saß ein alter Mann und spielte mit einem Rosenkranz. Sein fahles Gesicht mit spärlichen Haaren und alabasterweißer Haut war dem Himmel zugewandt. Auf dem Kopf trug er einen kesselartigen Hut mit einer arabischen Aufschrift. Asiadeh las ergriffen den uralten Spruch der Bektaschi: »Alles, was besteht, wird zugrunde gehen, außer seinem Sein. Ihm gehört die Allmacht, und von ihm hängt alles ab.«

Die Männer küßten die Hand des Greises. Er blickte sie mit leeren und erstaunten Augen an. Asiadeh beugte sich zum Derwisch. Sie sagte leise:

»Vater! Vertraue dich der Welt des westlichen Wissens an. Gottes Allmacht kann auch durch die Hand eines Arztes sprechen.«

Hassa stand abseits. Er blickte auf das alabasterweiße Gesicht des Derwischs und hörte die fremden zwitschernden Laute. Er dachte an Asiadeh, die ihn liebte und deren Achtung er erringen wollte. Endlich nickte der Derwisch und hob die Hand.

»Komm, untersuche ihn«, sagte Asiadeh zögernd. Hassa näherte sich dem Greis. Er stellte Fragen, die Asiadeh verwirrten, und erfuhr, daß der Alte vergeblich und langwierig wegen Nieren, Zucker und Augen behandelt wurde. Er runzelte die Stirn und erfuhr, daß der heilige Mann achtzehn Stunden am Tage schlafe. Der Derwisch zog sich aus. Hassa kniff die Augen zusammen und blickte auf den hageren Körper. »Er soll die Arme heben«, sagte er und sah, daß die Haare in den Achselhöhlen fast bis auf die Wurzeln herausgefallen waren.

»Ich sehe fast gar nichts«, sagte der Derwisch. Hassa untersuchte die Augen. »Bitemporale Hemianopsie«, sagte er, und der Derwisch sah ihn an, als spreche er eine Zauberformel. Dann schwieg Hassa und blickte auf die grüne Rasenfläche des Hofes. Die Menschen standen um ihn und sahen ihn erwartungsvoll an. Der Derwisch zog sich an und saß auf dem Teppich, gleichgültig und verschlafen.

»Ich werde morgen sagen können, ob ich ihm helfen kann«, sagte Hassa. »Ich muß es überschlafen.«

Asiadeh richtete sich auf. Es war klar, daß das westliche Wissen dort ohnmächtig war, wo Gott gesprochen hatte. Der Heilige würde sterben, trotz aller Überlegungen Hassas, denn Gott hatte so beschlossen.

»Gehen wir«, sagte Hassa und nahm Asiadeh am Arm. Unterwegs schwieg er, verbissen und gedankenvoll.

Zu Hause angelangt, seufzte Asiadeh. »Traurig«, sagte sie, »sehr traurig. Aber die Hand Gottes ist über allen Händen.«

»Ja«, antwortete Hassa. »Natürlich. Telephoniere mit der hiesigen Klinik. Ich muß einiges fragen.«

Asiadeh ging zum Telephon und übersetzte mechanisch:

»Hier bei Dr. Hassa. Kann ich den Direktor sprechen? Hallo, Herr Direktor! Mein Mann läßt fragen, ob sich hier jemand traut… Einen Moment, Herr Direktor… Einen Moment! Wie war es, Hassa?… Ja, also einen… Verzeihung, es ist so schwer auszusprechen… einen Hypophysentumor zu operieren? Kaum, Herr Direktor? Ja, hier bei Dr. Hassa. Er wird Sie besuchen.«

Hassa stürzte zum Ausgang. Asiadeh folgte ihm ganz außer Atem. Der Direktor des Spitals trug einen weißen Kittel, und Asiadeh übersetzte, ohne zu verstehen, was sich hinter den langen lateinischen Namen verbarg. Endlich nickte der Direktor, und Hassa drückte ihm dankbar die Hand.

Etwas später saßen sie wieder zu Hause. Hassa und Asiadeh. Hassa trank Kaffee und war aufgeregt und wortreich.

»Verstehst du«, sagte er. »Es ist der Türkensattel, die Sella turcica. Dort sitzt die Drüse. Sie heißt die Hypophyse. Es muß ein Tumor sein. Wir werden es noch röntgen. Aber der Befund scheint einwandfrei zu sein. Ich werde es endonasal operieren. Nach der Methode von Hirsch. Nach bisherigen Erfahrungen nur zwölf Komma vier von Hundert letal. Aber dennoch eine der schwierigsten Operationen, die es überhaupt gibt. Verstehst du mich?«

Er nahm ein Blatt Papier und zeichnete einen vertikalen Schädelschnitt. »Hier«, sagte er. »Das ist die Sattelgrube und hier sitzt die Hypophyse.«

Asiadeh blickte angestrengt drein und verstand nichts. »Türkensattel«, meinte sie verängstigt und hob die Augenbrauen.

Daraufhin ergriff Hassa ihren Körper und hob sie in die Luft. Er hielt sie ausgebreitet auf den Händen und drehte sich wirbelartig im Zimmer herum. »Türkensattel«, rief er dabei, und seine Hände waren stark und hart. Endlich setzte er Asiadeh ab. Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. Sie setzte sich auf den Teppich und starrte Hassa an.

»Mein Gott«, sagte sie. »So tanzen die heulenden Derwische aus der Bruderschaft der Mewlewi. Und das nennst du Hypophyse?«

»Nein, das ist der Türkensattel.« Hassa stand vor ihr und sprach herrisch und im Kommandoton. »Mit achtundachtzig Komma sechs Prozent Wahrscheinlichkeit werde ich deinem Derwisch helfen können. Er hat die ausgefallenste Krankheit der Welt. Aber auch du mußt mithelfen, zur Strafe für dein Mißtrauen. Sonst kann ich mich bei der Operation mit niemandem verständigen. Du bekommst einen weißen Kittel und wirst dabeistehen. Kannst du das? Oder wirst du einen onomatopoetischen Schrei ausstoßen und ohnmächtig zu Boden sinken?«

Asiadeh, immer noch auf dem Teppich sitzend, hob den Kopf.

»Wir sind alle Krieger gewesen. Ich werde es schon ertragen.«

Sie erhob sich und berührte Hassas Gesicht. Hassa stand in der Mitte des Zimmers und war jetzt vertraut und nahe. Sie blickte auf seine Hände, die etwas vermochten, was kein Mensch in Sarajewo konnte, und wurde schüchtern und befangen.

»Du meinst also wirklich, daß du diesen Türkensattel bezwingen wirst?«

»Ich hoffe. Falls die Diagnose stimmt…«

»Allah barif, Gott allein weiß es«, sagte Asiadeh. Sie blickte erschrocken vor sich hin und sah im hellen Wachtraum eine Schar buntbekleideter Reiter im weichen breiten Türkensattel durch die Steppe jagen. Hassa trug eine Lanze, und sein Sattel war mit goldenen Lettern bestickt. Er hob die Hand, und seine Lanze bohrte sich in das Gesicht des Feindes. Über den Sattel beugte sich ein alabasterweißes Gesicht, und eine fremde Stimme rief: »Alles, was besteht, geht zugrunde, außer seinem Sein.«

»Allah barif«, sagte sie und rieb sich die Augen. Die Vision verschwand. Hassa stand am Waschtisch und wusch sich die Hände. Große, helle Wassertropfen rannen über seine Finger.

12

Das Gesicht des Derwischs verschwand hinter einer sterilen Leinenmaske. Der Kranke saß teilnahmslos im Sessel und schwieg. Die Operationsschwester beugte sich über die Instrumente. Asiadeh sah den Schlitz für die Nasenspitze des Derwischs und hörte wie von weit her Hassas Befehle:

»Schwester, Kokainlösung mit Epirenan und dann Schleichsche Lösung zum Infiltrieren.«

Sie übersetzte, und das Zimmer roch nach Gas und Jodoform. Sie blickte auf die blassen Hände des Derwischs, die hilflos auf dem Sesselrand ruhten, und der trockene Handrücken verwandelte sich in das sommerlich-grüne Feld bei Amasia. Über das Feld ritt Sultan Orchan, von Falkenjägern, Sklaven und Wesiren begleitet. In Hassas linker Hand blitzte ein röhrenförmiges Instrument. Die Schwester beugte sich über den Kranken.

»Septumresektion nach Kilian«, sagte Hassa. Asiadeh sah einen metallenen Gegenstand. Hassa führte den Schnitt, und ein Blutstreifen bedeckte das Leintuch. Asiadeh sah das Blut, und ihre Lippen wurden trocken und heiß. Auf dem weißen Leintuch erhob sich das Dorf Sulidsche, und Sultan Orchan betrat das Haus des heiligen Hadschi-Bektasch, des Gründers der Bruderschaft der Bektaschi. Der heilige Hadschi-Bektasch trug wallende Gewänder, und Sultan Orchan bat um seinen Segen für das Heer, das er gründete. Ein Krieger mit breiter behaarter Brust näherte sich dem Heiligen, und der Scheich legte die Ärmel seines Filzmantels segnend auf den Kopf des Kriegers.