Er beendete den Satz nicht. Am Tisch stand ein blondes Mädchen und blickte mit erschrockenen Augen auf die streitenden Wissenschaftler und auf die Buchten und Seen, die sich unter der Tasse des Dr. Kurz verliefen.
»Ich bin Asiadeh«, sagte das Mädchen, und der schnackerlnde Kommerzienrat verschwand in den Abgründen des medizinischen Wissens. Die Ärzte sprangen auf. Asiadeh drückte die fremden Hände. Sie blickte verstohlen zu Hassa, der kurz und unmerklich mit den Wimpern nickte. Ja, das waren also die Männer, deren Hände sie drücken und deren Fragen sie beantworten mußte, die jene geheimnisvolle Welt darstellten, in der Hassa lebte.
»Ja«, sagte sie zerstreut und setzte sich hin. »Wien ist eine sehr schöne Stadt.« Die Ärzte sahen sie neugierig an, sie stellten Fragen, und Asiadeh beantwortete sie folgsam und geduldig. Die fremden Männer lächelten, und ihre Gesichter verzogen sich dabei in seltsame Grimassen. Sie blickten auf Asiadeh, sahen ihre grauen Augen, die kurze Oberlippe und den unbeholfenen Gesichtsausdruck, und die Welt erschien ihnen lebenswert und schön, voll lockender Geheimnisse und Rätsel, die so ganz anders waren als das rätselhafte Schnackerl des Kommerzienrats Danski.
»Wir fahren abends zum Heurigen«, sagte Dr. Kurz, denn er war ein sensibler Mann voll Verständnis für Frauenseelen. »Sie waren noch nie beim Heurigen, gnädige Frau?«
»Nein, aber ich weiß, was das ist. Es liegt in Grinzing. Wenn die Sonne sinkt, gehen die Menschen in die Weingärten und singen Lieder.«
»Beinahe richtig«, lobte Kurz, und die Männer nickten. Ja, sie wollten heute alle zum Heurigen, zu den grünen Weingärten der Vorstadt, zu den engen Gassen und uralten kleinen Häusern, die die niedrigen Hügel bedeckten und vom milden Mond beschattet waren. Sie erhoben sich. Rasch nach Hause! Ein Blick in die Ordination, ein Krankenanruf, ein kurzes Gespräch mit Frau oder Freundin und dann ins Auto, die holprige Straße hinauf zu der nächtlichen Stille der alten Weinberge.
»Gut«, sagte Asiadeh. »Zum Heurigen.« Sie stand neben Hassa, schlank, fremd und still. Hassa reichte ihr den Arm. Sie gingen zur Tür, und die Gäste des Kaffeehauses blickten ihnen nach.
»Es juckt«, sagte Asiadeh auf der Straße und bewegte die Schulter.
»Was juckt?«
»Die Blicke. Die Männer sehen mich an, als möchten sie mich küssen.«
»Vielleicht wollen sie es in der Tat.«
Asiadeh stampfte mit dem Fuß.
»Schweig!« sagte sie zornig. »So spricht man nicht mit seiner Frau. Komm. Komm zum Heurigen.«
Glasverhüllte Kerzen erhellten lange grüne Tische. Die Äste der Bäume hingen über den Tischen und glichen erstarrten Gespenstern. Durch den Garten gingen Mädchen in bunten Röcken und trugen Weinkrüge auf breiten Brettern. Die Gesichter der Menschen, vom flackernden Lichte der Kerzen erhellt, waren rötlich. Leichter, warmer Wind kam vom Weinberge. Menschen saßen an den langen grünen Tischen, wie aufgelöst im wilden Schein des zunehmenden Mondes. Etwas Abgeklärtes und gleichsam Heidnisches lag über dem Garten, als vollzöge sich hier ein uraltes Ritual, ein Gebet des Menschen an die Gnade der Rebe.
Die Krüge leerten sich. Tische und Bäume kreisten vor den Augen der Menschen. Glückseliges Lachen ertönte. Linien und Formen verschoben sich, und auf dem weichen Grase des Gartens zeichneten sich die flatternden Schatten des ewigen Dionysos. Die Menschen schienen von attischer Lust ergriffen zu sein. Der stille Garten glich plötzlich einem antiken Tempel, in dem glasverhüllte Kerzen zu Ehren der unsichtbaren Gottheit angezündet waren. In der Ferne ertönte ein Lied. Eine Frauenstimme sang leise und wehmütig. Die einzelnen Worte versanken im Fluß der zitternden Töne. Die Menschen stützten die Köpfe mit den Händen und schienen im traurigen Klang der Töne einen geheimnisvollen Widerhall ihrer eigenen Träume, Gedanken und Sehnsüchte zu vernehmen. Ein dicker Mann saß allein an einem alten Baum. Sein Gesicht schien der Welt des irdischen Leides zugewandt. Er schluchzte und glich plötzlich selbst einem Baumast, der sich geheimnisvoll vom Stamm losgelöst hatte, um für eine Nacht im Mysterium der nächtlichen Feier aufzugehen.
Frauen und Mädchen saßen umarmt und leutselig. Sie sangen, und die Mädchen brachten Krüge mit hellem und duftendem Wein…
Asiadeh saß auf dem harten Brett zwischen Hassa und Dr. Kurz. Ärzte und Frauen umgaben sie, und sie konnte sich in den verwirrenden Klängen ihrer Namen nicht zurechtfinden. Aber ohne Namen, ohne Fragen wußte sie sofort und genau, welche Frau zu welchem Mann gehörte, wer einander mit dem Blicke eines Besitzers oder der galanten Neugierde eines Fremden anblickte… Gespannt musterte sie die geröteten Gesichter der Frauen, die blonden, schwarzen und rötlichen Köpfe, die sich über den Tisch beugten und die duftenden Krüge zum Munde führten.
»Trinken Sie doch«, rief ihr jemand zu, und sie schüttelte lächelnd den Kopf. Es waren alles nette Menschen, aber trinken konnte sie nicht. Sie nippte an einem Glas Wasser und sagte freundlich:
»Ich trinke keinen Wein. Wissen Sie, die Religion verbietet es mir. Aber Sie haben doch so gutes Wasser. Das beste von Europa.«
Sie trank, und das Mädchen im bunten Rock stellte dicke Scheiben von Wurst, Schinken und Brot auf den Tisch. Asiadeh sah das weiße Fett, das blasse und rötliche Fleisch und fühlte ein leichtes Sausen in ihren Ohren.
»Ist es Schwein?« sagte sie vorsichtig, und die Menschen nickten und aßen.
Sie öffnete den Mund und schnappte erschrocken nach Luft. Das war der Augenblick, den sie erwartet hatte und vor dem sie sich immer fürchtete. In Europa aß man Schweine. Sie hatte noch nie im Leben ein lebendes Schwein gesehen und wußte nicht, wie das Fleisch schmeckte. Aber in ihrem Blut, in ihren Adern, in ihren Nerven lebte eine dunkle und uralte Angst, ein Haß und ein Ekel vor dem Fleisch, das Gott dem Muslim verboten hatte.
Sie knabberte vorsichtig an einem Stück Brot, und eine blonde Frau, die zu Dr. Matthes gehörte, sah sie mitleidsvoll an:
»Ist es nicht langweilig, hier zu sitzen, ohne zu essen und ohne zu trinken?«
»Nein, danke, es ist ein so schöner Garten.«
Die fremde Frau lächelte. Sie hatte blonde Haare und rote schmale Lippen.
»Haben Sie viele Kinder?« fragte Asiadeh, denn sie wollte nett zu der fremden Frau sein.
Die Blonde sah sie verständnislos an.
»Kinder? Überhaupt keine!«
»Oh«, lachte Asiadeh und war auf einmal sehr vergnügt. »Sie sind auch ganz jung verheiratet?«
Die Frau lachte und schien sehr froh zu sein.
»Alles in allem zehn Jahre, aber mit drei verschiedenen Männern. Ich bin schon zweimal geschieden.«
Asiadeh neigte den Kopf zur Seite und wurde ganz rot. »Aha«, stammelte sie. »Ich verstehe, ja, natürlich.«
Sie leerte das Wasserglas und sah die Frau mitleidsvoll an. Die Arme bekam keine Kinder.
Das zarte rötliche Mädchen, das neben Dr. Sachs saß, sah sie lächelnd an. »Essen Sie Käse«, sagte sie und reichte Asiadeh eine Scheibe. Es schien eine nette und stille Frau zu sein, aber man sollte die Europäerinnen nicht nach Kindern fragen.
»Haben Sie viel mit dem Haushalt zu tun?« fragte Asiadeh, denn es war eine harmlose Frage, die nicht verletzen konnte.
»Nein«, sagte das Mädchen. »Den Haushalt führt die Mutter.«
»Aha, Ihre Mutter lebt bei Ihnen.«
Asiadeh sah Dr. Sachs anerkennend an. Nur ein sehr guter Mann nahm die Schwiegermutter mit ins Haus.
»Nein, die Mutter wohnt nicht bei mir. Ich wohne bei der Mutter.«
Asiadeh verstand nicht ganz. Vielleicht waren diese Menschen betrunken. Wein konnte Wunder vollbringen.
»Und Ihr Mann erlaubt es?«
Da lachten alle und sprachen durcheinander und heiter. Asiadeh verstand nicht alles, aber so viel verstand sie, daß von den vier Frauen, die geschminkt und lächelnd am Tisch saßen, nur zwei verheiratet waren, dafür aber schon mehrmals.