Die Rothaarige sah Asiadehs verstörtes und verzweifeltes Gesicht und beugte sich zu ihr. »Man kann sich doch gern haben, ohne verheiratet zu sein. Nicht wahr?«
Asiadeh nickte. Solches kam in der Tat vor, aber es war unmöglich, sich gern zu haben, ohne die Absicht zu haben, Kinder zu bekommen. Das war ganz unmöglich. Das mußten erwachsene Menschen doch wissen.
Die erwachsenen Menschen tranken. Hassa lachte und seine Hand glitt über Asiadehs Knie. Entsetzt prallte Asiadeh zurück. Der Garten war kein Ehebett, aber vielleicht war Hassa betrunken, das kam bei Europäern vor, und sie konnten dann nichts dafür.
Die vier fremden Frauen, die viele Männer, aber keine Kinder hatten, lachten schrill, und Asiadeh verstand plötzlich, daß es ganz gleichgültig sei, ob sie verheiratet waren oder nicht.
»Ich komme gleich«, flüsterte sie Hassa zu. Sie lief durch den Garten an den langen Tischen vorbei. Sie stieß sich an einem Baumast und fühlte sich einsam und gottverlassen in dem Labyrinth der trunkenen Gäste.
Sie trat auf die stille Straße. Die Menschen im Garten waren wie Larven aus einem bösen Traum. Frauen wie diese gab es in dem Verbrecherviertel Tatawla oder in den trunkenen Gassen Galatas, aber es gab dort keine Männer, die Herren über den Tod waren und dennoch keine anderen Frauen finden konnten. Ein dumpfer Schmerz erfüllte Asiadeh. Sie ging durch die lange Reihe der parkenden Autos und fand Hassas Zweisitzer. Sie stieg ein und verkroch sich im weichen Leder. Die Straße war dunkel und geheimnisvoll, gleich dem Leben dieser Menschen, die freundlich und fremd waren, wie Schatten aus einer fremden unerreichbaren Welt.
Asiadeh blickte in die Ferne, in die dunklen Umrisse der Weinberge. Von weit her kam Gesang. Sie vernahm die Anfangsworte des Liedes:
»Ich komm aus Grinzing und bring einen winzigen Affen nach Haus.«
Die Worte waren geheimnisvoll und unverständlich, wie alles in dieser fremden Stadt. Irgendwo mußte das wahre Gesicht dieser Welt verborgen sein. Irgendwo sprangen über die Äste Grinzinger Affen, die zahm und zart waren und die man nach Hause bringen konnte. Sie sah sich um. Es war kein Affe zu sehen. Tiefe Trauer überkam sie. Der Geruch des Weines und des fetten Fleisches verfolgte sie. Sie war plötzlich von einer seltsamen Schwäche ergriffen und legte den Kopf auf das Polster. So fand sie eine halbe Stunde später der erschrockene Hassa. Verschlafen streckte sie ihm die Hände entgegen und flüsterte:
»Hassa, ich habe mich verlaufen und fürchtete mich vor den Affen. Nimm mich in Schutz, Hassa.«
15
»Iß Kaviar, John.«
Die Birnen leuchten grell. Die Speisen auf dem Büfett in der Mitte des Saales schimmern in allen Farben des Regenbogens. Graue Kaviarkörner sind weich und zart, voll jungfräulicher Hingabe. Die roten Hummern gleichen nachdenklichen, abgeklärten Weisen. Festungsartig erheben sich die Pasteten. Austern schwimmen in Eis und tragen in ihren blassen Schalen alle Düfte des Ozeans.
John Rolland nimmt folgsam den Kaviar und quetscht über ihn eine Zitrone aus. Er ißt, und das Sausen in seinen Ohren nimmt zu.
»Windstärke neun«, sagt Heptomanides und kaut genießerisch an einer Pastete. »Es ist seltsam, daß große Schiffe genau so schaukeln wie kleine.«
Daraufhin erhebt sich Rolland, legt den Teller weg und eilt zum Ausgang. »Hund«, sagt er in einer fremden, aber dem Griechen allzu verständlichen Sprache. Heptomanides lächelt und greift zum Kaviar. Indessen eilt Rolland zum Promenadendeck.
Der Ozean ist grau, und der Horizont kreist in tobender Geschwindigkeit vor den Augen. Windgepeitschte Wellen zerschlagen sich am Bord und gleichen ins Meer gefallenen Wolken. John Rolland läßt sich im Liegestuhl nieder. Ein Steward kommt und umwickelt seine Beine mit einem Plaid.
»Kaffee? Whisky? Kognak?«
»Hund«, sagt Rolland, und der Steward nickt teilnahmsvoll, denn es ist Windstärke neun.
John Rolland hat einen säuerlich-faden Geschmack im Mund und glaubt in einen unendlichen Abgrund zu stürzen. Mühselig zündet er sich eine Zigarette an und wirft sie gleich weg. Noch ein Zug, und etwas Schreckliches, nicht wieder Gutzumachendes wäre geschehen. John Rolland blickt böse auf das Paket Zigaretten und denkt bissig, daß an allem die braune Verpackung schuld sei, mit dem blöd dreinblickenden Kamel und der Wüste im Hintergrund. Er könnte jetzt ruhig in der Bar seines Hotels sitzen, wie er es vor sechs Tagen tat, und der Boden unter seinen Füßen wäre fest und eben.
Sechs Tage sind es her, daß er das Paket Zigaretten aufriß, wie er es täglich tat, und seine Augen verfolgten zum ungezählten Male das blöd lächelnde Gesicht des Zigarettenkamels. Und plötzlich wuchs die Schimärenfratze des Kamels, Sand wirbelte unter seinen Füßen, Trommelschläge ertönten, trockener Wüstenwind schlug in Rollands Gesicht, er sah die weichen und zitternden Fersen des Wüstentieres, fühlte das harte, staubige Fell und streichelte mit plötzlicher Ergriffenheit das harte Papier des Zigarettenpakets.
»Perikles«, sagte er damals. »Suche eine Wüste aus mit Kamelen und Moscheen. Ich gehe auf Reisen, und du begleitest mich.«
Später schlief er ein, und am nächsten Tag stand Sam Dooth vor ihm mit zwei Fahrkarten nach Casablanca, und seine weisen, griechischen Augen lächelten.
John Rolland bewegt seine plaidumwickelten Füße und sieht den Agenten zigarrenrauchend und zufrieden auf das Deck treten.
»Wie kannst du dich nur des Lebens freuen«, sagt John bitter. »Wo doch bekanntlich Tausende von Menschen täglich allen Jammer des irdischen Tränentals auskosten müssen. Du verstehst nichts vom Weltschmerz.«
Sam Dooth nickt, nimmt neben Rolland Platz und bestellt sich einen Mokka. »Die ›Chinesische Mauer‹ läuft schon die vierte Woche am Broadway«, sagt er. »Ich habe allen Grund, zufrieden zu sein.«
»Ich habe sie geschrieben«, haucht Rolland. »Und ich vergehe vor Schmerz, wenn ich an das Schicksal der werdenden Mütter in Indien denke.«
»Daran denkt man immer bei Windstärke neun«, sagt Sam Dooth und nippt am Mokka. »Ich bin nämlich schon neunmal über den Ozean gefahren.«
Rolland fühlt sich tief gekränkt. Er will sich aufrichten und dem Agenten sagen, daß alle Griechen Amphibien seien, schon Odysseus war ein Pirat, von den Argonauten ganz zu schweigen.
Er will ihm sagen, daß seine, Johns, Ahnen immer erdgebundene Menschen waren, die drei Kontinente bezwangen, aber für die Freiheit der Meere eintraten, daß es unmenschlich sei, in einer Nußschale von nur 40 000 Tonnen über den Ozean zu fahren und er ihn nie wieder Sam Dooth, sondern nur noch Perikles Heptomanides nennen werde.
Statt dessen erhebt er sich im Sessel, blickt mit brechenden Augen zum Agenten hinüber und sagt lächelnd:
»Sam, mein Lieber. Ich will mich hinlegen. Mein Testament ist beim Portier des Barbison-Plaza-Hotels hinterlegt.«
Er geht etwas taumelnd über das Deck, hält sich am Treppengeländer fest und öffnet die Tür seiner Kabine.
Dann liegt er entkleidet, mit geschlossenen Augen in seinem Bett, sein Körper sinkt in den Abgrund und wird von einer unsichtbaren Hand wieder hochgeworfen, er faltet seine Hände über der Decke und denkt, wie er sechs Jahre alt war und auf dem Schoße des Sultans Abdul-Hamid schaukelte. Abdul-Hamid war ein blutbefleckter Mann, er hatte eingefallene Lippen, kleine listige Augen, eine mächtige herabhängende Nase, und alle Welt fürchtete sich vor ihm. Aber John Rolland saß auf seinem Schoß, der blutige Sultan tätschelte seine Wangen, und er mußte ein persisches Gedicht aufsagen, von dem er nur noch eine Zeile kannte:
»Taze bitaze, un binu.« — »Immer frischer und frischer, immer neuer und neuer.«
»Ich bin weder frisch noch neu«, denkt Rolland und schließt die Augen. Es vergehen Minuten, doch während dieser Minuten wird der blutige Sultan gestürzt, ein neuer Sultan umgürtet sich mit dem Schwerte Osmans, und John Rolland wohnt in einem Palais von Eunuchen und Frauen umgeben. Hin und wieder trägt er eine rotblaue Uniform und drückt Würdenträgern die Hand. Dann sitzt er auf einem breiten Teppich, liest Bücher, schreibt Gedichte, und eine schlanke Sklavin bedient ihn und führt ihn in die Geheimnisse der Liebe ein.