Dr. Hassa machte ein ernstes Gesicht und betrat den großen Ordinationsraum. An den Wänden standen in anscheinend endlosen Reihen die Untersuchungsstühle. Neben jedem eine elektrische Birne, ein Instrumententisch und einige Schalen. Kranke saßen auf den Stühlen und hatten abwesende und gleichsam angestrengte Gesichter. In der Ecke links klapperte Dr. Mossitzki mit einem Satz Halsspiegel und am dritten Stuhl rechts schrie Dr. Mann: »Schwester, einen Ohrtrichter!«
Auf dem Untersuchungsstuhl Dr. Hassas saß ein blondes Mädchen mit schwärmerischen grauen Augen von seltsam gewundenem Schnitt. Dr. Hassa setzte sich auf den niedrigen Hocker vor das Mädchen und sah sie aufmerksam an. Das Mädchen lächelte und aus den traurigen, seltsam geschnittenen Augen schlug plötzlich eine Fontäne der Heiterkeit. Sie deutete mit dem Finger auf Hassas nach aufwärts gerichteten Reflektor und sagte mit einer fremdländisch klingenden Stimme: »Es sieht aus wie ein Heiligenschein.«
Hassa lachte. Das Leben war doch ganz interessant, und Marion ging ihn in der Tat nichts an. Er blickte in die grauen unergründlichen Augen und dachte kurz: hoffentlich Rhinitis vasomotoria, erfordert längere Behandlung. Er ertappte sich bei diesem Gedanken, verwarf ihn als standesunwürdig und sagte etwas schuldbewußt: »Wie heißen Sie?«
»Asiadeh Anbari.«
»Beruf?«
»Studentin.«
»Ach so, Kollegin«, sagte Hassa, »auch Medizinerin?«
»Nein, Philologin«, sagte das Mädchen. Hassa richtete den Reflektor zurecht.
»Und was führt Sie zu mir? So, Halsschmerzen.« Seine linke Hand suchte automatisch den Stalpel. »Germanistin?«
»Nein«, sagte das Mädchen streng, »Turkologin.«
»Was bitte?«
»Vergleichende türkische Sprachforschung.«
»Mein Gott, was versprechen Sie sich davon?«
»Nichts«, sagte das Mädchen böse und sperrte den Mund auf.
Hassa tat seine Pflicht langsam, sanft und umständlich. Dabei spalteten sich seine Gedanken in berufliche und private. Beruflich stellte er fest: Rhinoskopischer Befund — anterior et posterior, nichts Auffallendes. Leichte Rötung des linken Trommelfelles, aber auf Druck unempfindlich. Keine ansetzende Otitis media. Rein lokale Infektion. Bei weiterer Behandlung Anamnese berücksichtigen. Privat dachte er: Vergleichende türkische Sprachwissenschaft! Und so etwas gibt es wirklich, trotz der grauen Augen! Anbari heißt sie. Den Namen habe ich schon mal gehört. Sie wird noch keine zwanzig sein, und so weiche Haare.
Dann legte er den Reflektor ab, schob den Hocker zurück und sagte sachlich: »Tonsillitis. Beginnende Angina folicularis.«
»Auf deutsch Halsentzündung«, lachte das Mädchen, und Dr. Hassa beschloß, auf Latein zu verzichten.
»Ja«, sagte er, »natürlich ins Bett. Hier ein Rezept zum Gurgeln. Keine Umschläge, im Auto nach Hause fahren. Leichte Kost, aber warum wirklich Turkologie? Das führt doch zu gar nichts?«
»Das interessiert mich«, sagte das Mädchen bescheiden, und die Heiterkeit der Augen ergoß sich über ihr Gesicht.
»Wissen Sie, es gibt so viele seltsame Worte und jedes Wort klingt wie ein Trommelschlag.«
»Sie haben Fieber«, sagte Hassa, »daher der Trommelschlag. Ich habe Ihren Namen gehört. Es gab einen Anbari, der war einst Gouverneur von Bosnien.«
»Ja«, sagte das Mädchen. »Es war mein Großvater.« Sie erhob sich, und ihre Finger versanken für einen Augenblick in Dr. Hassas breiter Hand. »Kommen Sie wieder, wenn Sie gesund sind… Ich meine zur Nachbehandlung.«
Asiadeh warf den Blick hoch. Der Doktor hatte braune Haut, schwarze zurückgekämmte Haare und sehr breite Schultern. Er war ganz anders als die geheimnisvollen U-Boot-Kapitäne oder wilden Fischer vom Ufer der namenlosen Flüsse. Sie nickte eilig und ging zum Ausgang.
Am Bahnhof Friedrichstraße blieb sie stehen und dachte nach. Der Arzt sprach vom Auto. Sie spitzte die Lippen und beschloß, verschwenderisch zu sein. Hocherhobenen Hauptes ging sie am Bahnhof vorbei in Richtung der Linden. Dort bestieg sie einen Autobus, lehnte sich in die weichen Lederpolster und dachte befriedigt, daß ein Auto nur ein bescheidenes Diminutivum des weich dahinrollenden Autobusses sei.
»Zur Uhlandstraße«, sagte sie dem Schaffner und reichte ihm die Münze.
2
Das Zimmer war dunkel. Es lag im Parterre, und die beiden Fenster führten zum Hofe hinaus. In der Mitte des Zimmers stand ein linoleumbedeckter Tisch und drei Stühle. Von der Decke herab hing an langer Schnur eine ungedeckte Birne. An den Wänden, an die zerfetzten Tapeten gerückt, standen dicht nebeneinander ein Bett und ein Diwan. An der einzig freien Wand stand ein Schrank, dessen Tür mit Hilfe einer zusammengefalteten Zeitung zugehalten wurde. Daneben hingen einige vergilbte Photos. Achmed-Pascha Anbari saß am Tisch und verfolgte mit angestrengtem Blick die wohlvertrauten Muster der vergilbten Tapete.
»Ich bin krank«, sagte Asiadeh und setzte sich auf den Stuhl. Achmed-Pascha hob den Kopf. Seine kleinen, dunklen Augen blickten erschrocken. Asiadeh gähnte und reckte ihre schmalen Arme. Achmed-Pascha stand auf, richtete das Bett und Asiadeh rutschte aus dem Kleid. Sie saß am Rande des Bettes und erzählte fröstelnd und etwas verworren von der jakutischen Endung auf »a« und von dem fremden Mann, der ihr in den Hals schaute.
Achmed-Paschas Augen füllten sich mit Entsetzen.
»Du bist allein beim Arzt gewesen?«
»Ja, Vater.«
»Mußtest du dich ausziehen?«
»Nein, Vater, wirklich nicht.« Es klang sehr gleichgültig. Asiadeh schloß die Augen, ihre Glieder empfand sie wie Blei. Sie hörte Achmed-Paschas torkelnde Schritte und das Klappern von Silbermünzen. »Zitronen und Tee«, flüsterte Achmed-Pascha irgendwo hinter der Tür.
Asiadehs Wimpern zitterten. Unter halbgeschlossenen Lidern sah sie die vergilbten Photos an der Wand. Achmed-Pascha trug darauf einen goldbestickten Galarock, einen Schleppsäbel, einen ehrwürdigen Fes und Glacehandschuhe. Asiadeh atmete tief auf und spürte plötzlich den Staub der Galatabrücke und den Geruch von Datteln, die einst in der Ecknische ihres Zimmers am Bosporus trockneten. In der Ferne erklang ein leises Murmeln. Achmed-Pascha kniete auf dem staubbedeckten Teppich des Berliner Zimmers und seine Stirn berührte den Boden. Er betete leise und in sich versunken. Asiadeh sah die große runde Kugel der Sonne und die alte Mauer Konstantins an den Toren von Istanbul. Der Janitschar Hassan kletterte über die Mauer und hißte die Fahne des Hauses Osman auf der alten Zitadelle. Asiadeh biß sich auf die Lippe. An der Romanus-Pforte kämpfte Michael Paleologus, und Fati Mohammed ritt über die Leichen in die Hagia Sophia ein und preßte seine blutbefleckte Handfläche an die byzantinische Säule. Asiadeh hob ihre eigene Hand und preßte sie an den Mund. Ihr Atem war heiß und feucht, und sie sagte laut und energisch:
»Boksa!«
»Was hast du, Asiadeh?« Achmed-Pascha stand über ihr Bett gebeugt.
»Karagassischer Dativ für das dschagataische Bogus, Hals«, antwortete das Mädchen. Achmed-Pascha blickte besorgt drein und warf seinen Pelzmantel über ihre Decke.
Dann betete er weiter, und Asiadeh sah im wirren Wachtraum die schmalen Schultern des Sultans Wachdeddin, der durch das Spalier der Soldaten zum Freitagsgebet hinausfuhr. Kleine Boote kreisten am Tatly-Su, und die Zeitungen berichteten von den Eroberungen im Kaukasus, von den Siegen der Deutschen und von der großen Zukunft, die das Reich der Osmanen erwarte.
Jemand zupfte an ihren Haaren. Sie öffnete die Augen und sah Achmed-Pascha mit einem Glas in der Hand. Sie gurgelte eine übelschmeckende Flüssigkeit und sagte sehr ernst: »Gurgeln ist onomatopoetisch, das Ganze muß lautgeschichtlich erfaßt werden.« Dann sank sie in die Kissen zurück.