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»Hoheit sind nicht verkommen«, sagt der Pascha ernst. »Hoheit haben kein Vertrauen zum Vater. Hoheit müssen bedenken: im Orientalischen herrscht der Vater vor, im Okzidentalen der Sohn. Das Streben des Künstlers muß darauf gerichtet sein, in jedem Geschehen den Vater zu finden.«

»Ich kann es nicht«, sagt Rolland. »Ich bin nämlich feige. Ich fürchte mich vor der Welt der sichtbaren Form. Wollte ich reine Kunst schaffen, so wäre es eine ins Ästhetische übertragene Wollust. Aber die wahre Kunst ist etwas Erhabenes. Sie ist eine wahre Magie, in der das Wort den unsichtbaren Hauch anzieht und festhält, um ihn zu zwingen, Leib zu werden und sich den Menschen zu zeigen. Darum kann ein wahrer Künstler wie ein Gott schaffen. Am Anfang war das Wort.« Rolland verstummt und blickt verträumt um sich. Er sieht den großen Raum von Kempinski, sieht kauende Zähne, vorgebeugte Gesichter. Ein Ekel ergreift ihn, er will wieder allein sein, fern der satten kauenden Welt. Er denkt, daß dieser Wunsch all dem widerspricht, was er eben gesagt hat, und verspürt einen heftigen Durst. Er will trinken, damit sich die inneren Formen der sichtbaren Welt verwischen und er wieder allein sein kann, allein und wunschlos in der großen feindlichen Wüste. Er unterdrückt das heftige Verlangen, denn er ist ein Prinz des heiligen Geschlechtes, und am Tisch sitzt ein frommer Pascha mit müden und bittenden Augen.

So spricht er also weiter, beinahe mechanisch, und der Pascha schaut ihn an und denkt an das Unglück des Hauses Osman, und an seine Tochter, die dem Prinzen helfen könnte und die nun fort ist. Scham und Trauer überkommen ihn. Des Prinzen Gesicht ist die durchsichtige Maske des Unsichtbaren, und der Pascha sieht in dieser Maske mehr, als der Prinz selbst von sich weiß oder von sich ahnt.

»Eine Frau fehlt ihm, eine gute Frau«, denkt der Pascha, aber er traut sich nicht, das zu sagen, denn Rollands Gesicht ist wieder kalt und überheblich, er trommelt mit dem Finger auf die Tischplatte und sagt: »Verraten und verlassen habt ihr mich. Das Haus, das Reich, die Herrschaft. Und die ältesten Diener des Thrones geben Frauen, die mir gehören, anderen Männern hin.«

Der Pascha schweigt, er denkt an die blonde Asiadeh, er denkt daran, daß er, wenn er ein Prinz wäre, mit bewaffneter Hand sich das Weib zurückholen würde, das ihm bestimmt war. Aber er ist kein Prinz, sondern nur ein alter Mann, der im Laden in der Kantstraße sitzt und Teppiche verkauft, und es gibt keine Frau mehr, die für ihn bestimmt wäre.

»Gehen wir«, sagt Rolland. Er betritt die Straße, und der alte Mann torkelt neben ihm wie ein Gespenst der Trauer. Er erzählt wieder von Asiadeh, von ihrem Mann, von der Stadt Wien, in der es herrliches Wasser gebe, und Rolland hört ihm lässig zu, denn Frauen sind für ihn störende und lärmende Spielzeuge, wertloser und nutzloser als eine Flasche guter Whisky. An der Kantstraße trennt er sich vom Pascha und geht langsam nach Hause. Die Straße ist breit und sauber. Rolland sieht die Gesichter der Menschen, und sie kommen ihm zufrieden und satt vor. Er fühlt eine große und dumpfe Leere in sich aufsteigen, er will die Menschen erdrücken und erwürgen, die zu leben wagen und die zufrieden sind, während das alte Reich zerfallen ist. Er denkt an den Pascha, an seine traurigen Augen, seinen gebückten Gang, und ein Gefühl schmerzlicher Einsamkeit überkommt ihn. Er will zurück, um über persische Miniaturen zu sprechen und über den Unsichtbaren, der sich durch die durchsichtige Maske des Irdischen offenbart. Aber er geht nicht zurück, denn das alte Reich ist zerfallen und Tote soll man ruhen lassen. Statt dessen betritt er das Hotel, sieht, wie Sam Dooth die Zeitung liest, klopft ihm auf die Schulter und sagt, für sich selbst völlig überraschend:

»Auf, Perikles, wir fahren nach Wien!«

17

Der Wagen fuhr über die kurvenreiche Chaussee. Links im Tal erhoben sich die weißgetünchten Türme der Dorfkirchen. Die grünen Wiesen glänzten im Schein der sommerlichen Sonne. Satte Kühe standen am Wegrand und blickten mit runden, feuchten Augen auf das Auto. Kinder mit verstaubten Füßen saßen unter den Bäumen und spielten mit trockenem Geäst. Rechts erhoben sich weiche grüne Hügel. Die hellen Farben des späten Sommers bedeckten die Erde, und die Sonne war nahe, mild und vertraut wie ein alter Freund.

Asiadeh saß am Volant. Das Auto fuhr langsam zum Semmering hinauf, Asiadehs Fuß drückte den Gashebel, als wäre es ein gebrechliches Spielzeug. Ein Druck — und das Auto schoß vorwärts wie ein rasendes losgelassenes Pferd. Eine leichte Bewegung des Fußes, und das Auto verlangsamte die Fahrt wie ein folgsames zahmes Haustier. Asiadehs Augen streiften über die Landschaft. Sie sah die grünen Wiesen, die Kirchtürme im Tal und die Kruzifixe am Rande der Kurven. Es war ein seltsames Gefühl durch eine Handbewegung, durch einen kaum merkbaren Druck des Fußes einen wirren Haufen von Stahl, Rädern, Lampen, Röhren und Pneus zu beherrschen. Sie steuerte, den Rücken gegen die weiche Lehne gestützt. Die Augen, die Hände, die Füße waren mit der Maschine verbunden. Manchmal lächelte Asiadeh und glättete die gerunzelte Stirn. Vorsichtig bog sie um die Kurve, der Fuß drückte auf den Gashebel, die Maschine schoß vor, und die Gedanken blieben zurück, wanderten schneller als jedes Auto die kilometerlange Strecke nach Wien zurück, zur Wohnung am Ring, zu Hassa, der in der Wohnung saß, schweißtriefend und abgehetzt in der Glut der sommerlichen Sonne.

Die Fenster der Wohnung am Ring waren stets verhängt. Asiadeh besuchte die Strandbäder und die Kaffeehäuser. Sie kam nach Hause und stieß auf fremde Menschen, die im Wartezimmer saßen und in Zeitschriften blätterten. Im kleinen Salon mit den Erkerfenstern roch es ein wenig nach Medizin. Im Nebenzimmer klapperte Hassa mit Instrumenten. Manchmal ertönte seine laute Stimme:

»Zweiundzwanzig!« schrie er. »Hören Sie gut? Zweiundzwanzig!«

»Vierzehn«, antwortete ein Patient, und wieder klapperten die Instrumente. Dann kam Hassa heraus, im weißen Kittel und schweißtriefend. Er küßte flüchtig Asiadeh, und seine Augen blickten so abwesend, daß sie fürchtete, er werde gleich »zweiundzwanzig« sagen und eine Diagnose stellen. Er stellte aber keine Diagnose. Er ließ sich für wenige Augenblicke in den Sessel nieder, hielt Asiadehs Hand in der seinen und verschwand dann wieder im Ordinationszimmer.

»Sagen Sie ›i‹«, schrie er, und eine hohe Stimme sagte klagend und furchtsam »i-i-i-i-i…«

Asiadeh ging in den großen Salon. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Bücher. Die philologischen Zeitschriften hatten farblose Umschläge und glichen beleidigten alten Jungfrauen. Schuldbewußt öffnete Asiadeh ein Heft. Sie erfuhr, daß das Diapason der Polystadialität der georgischen Sprache sich von der amorphen Stufe bis zur flektivischen erstreckt. Es klang unverständlich, aber Asiadeh verstand es dennoch und war erstaunt, warum dieser unerhörte Diapason sie so kühl ließ. Gelangweilt überflog sie ein paar Seiten. Am Ende des Heftes stand die Mitteilung, daß Prof. Schanidse am Wan-See Palimpseste mit hanmetischen Texten entdeckt habe. Erbost klappte sie das Heft zu. Seit sie verheiratet war, verloren die rätselhaften Formen der fremden Worte ihren magischen Reiz. Grob und ungeschliffen klangen sie in ihren Ohren und weckten keinerlei Vorstellungen an schlitzäugige Nomaden und ferne Steppen.

In Hassas Zimmer klingelte das Telephon. »Ja«, hörte sie, »Sie können heute noch kommen. Sagen wir um halb sieben Uhr.« Sie wußte Bescheid. Die Ordination würde bis acht Uhr dauern. Sie trabte zum Kaffeehaus und las Zeitschriften, bis Dr. Sachs kam oder Dr. Kurz.

Um halb neun Uhr kam Hassa, und sie fuhren in den Prater oder zum Kobenzl. Am Kobenzl raschelten die Bäume. Das Riesenrad war in der Dämmerung noch deutlich sichtbar. Asiadeh trank saure Milch und hörte zu, wie Hassa über die Kranken sprach, oder über das Theater, oder über die Politik. Bis in die Nacht saßen sie da, Asiadeh blickte zu den Lichtern der Stadt hinab und dachte, daß das wirkliche Leben sehr schön sei, aber auch sehr ernst und ganz anders, als man es sich vorstellte. »Wenn wir Kinder haben«, sagte sie, »werden wir sie zum Kobenzl mitnehmen. Sie werden zwischen uns sitzen und Kuchen essen. Ich will fünf Kinder haben.«